RASMUS GREINER

ALS CHAPLIN NICHT MEHR SCHWEIGEN KONNTE — FILMTON UND POLITIK IN THE GREAT DICTATOR

ESSAY

Kaum ein filmgeschichtlicher Prozess veränderte die Ästhetik des Kinos in einem vergleichbaren Ausmass wie die Einführung des Synchrontons. Fast zeitgleich stieg das Radio zum Massenmedium auf und verankerte die medial repräsentierte politische Rede im Bewusstsein der Bevölkerung. Insbesondere der Nationalsozialismus setzte auf die Entwicklung günstiger ‹Volksempfänger›, um seine Ideologie weiterzuverbreiten. Hitlers Stimme wurde zu einem ‹sonic icon›1 – einem unverwechselbaren Klangereignis. Wer konnte dem Diktator in diesem Medienkrieg, dem schon bald ganz reale Feldzüge folgten, die Stirn bieten?

Dieser Beitrag untersucht, wie Charles Chaplin als einer der letzten grossen Stummfilmstars in seinen Filmen das Wort ergriff, um sich dem Nationalsozialismus entgegenzustellen. Hierbei wird auch ein filmgeschichtlicher Blickwinkel eingenommen, der die Kritik am ‹Verbo-Zentrismus›2 – der Konzentration auf den Dialog auf Kosten der Bildästhetik – im frühen Tonfilm thematisiert. Die Stimme wird also nicht nur als Organ der politischen Artikulation, sondern auch als ‹Problemzone› im körperlich-technischen Spannungsfeld der Filmaufnahme und -ästhetik begriffen.

In einer Analyse des Films The Great Dictator (Charles Chaplin, US 1940) soll aufgezeigt werden, welche audiovisuellen Strategien Chaplin entwickelte, um sowohl das politische als auch das ästhetische Potenzial des Tonfilms neu auszuloten. Mit komödiantischen Mitteln wird auf die Gewaltherrschaft und Verbrechen der Nationalsozialisten hingewiesen und die Faszination an Hitlers medialer Präsenz dekonstruiert. Chaplins grosser Diktator ist sowohl bedrohlich als auch lächerlich. Eine gefährliche Mischung, wie die zweite von ihm verkörperte Figur, ein argloser jüdischer Friseur, am eigenen Leib erfahren muss. Beide gleichen sich bis aufs Haar. Als der Friseur schliesslich am Ende des Films mit dem Diktator verwechselt wird, zerrt man ihn direkt auf eine Rednertribüne. Doch statt den Kriegstriumph zu verkünden, bricht er in einer ergreifenden Rede eine Lanze für die Freiheit und das friedliche Zusammenleben.

Mit der lautmalerischen Fantasiesprache in den Reden des Diktators entwirft Chaplin eine neue audiovisuelle Ästhetik, die sich in der Kombination von geräuschhaften Tonelementen mit der Pantomime des Stummfilms manifestiert. Der Schlüssel zur Weiterentwicklung des Tonfilms lag somit – so meine These – sowohl in der Rückbesinnung auf die ausgefeilte Bildästhetik des Stummfilms als auch in der Entdeckung und Ausgestaltung der Tonästhetik. Die Rede des Friseurs am Ende des Films bestätigt diese Annahme, indem sie eine komplexe Sinnkonstruktion aus dem Zusammenspiel von sprachlich-auditiven und visuellen Gestaltungsmitteln erzeugt. Chaplin hatte offenbar erkannt, dass sich das ästhetische Potenzial des Tonfilms besonders dazu eignet, zu einem politischen Diskurs beizutragen. The Great Dictator ist aber nicht nur im Sinne einer impliziten politischen Ausdruckskraft, sondern auch als offener Appell angelegt. Die Reden in diesem Film verleihen somit auch jenem politischen Engagement Ausdruck, das Chaplin später dazu zwang, in der Schweiz eine neue Heimat zu suchen.

Die Problematik des Sprechens im frühen Tonfilm

Die Einführung des Tonfilms war zwar kommerziell ein grosser Erfolg, wurde jedoch von vielen Theoretikern und Künstlern kritisiert. Insbesondere der Umgang mit der menschlichen Stimme wurde als Problem identifiziert, das sogar Stoff für einige Filme bot. So zeigt Singin’ in the Rain (Stanley Donen/Gene Kelly, US 1952), wie sich der Regisseur beim Dreh eines frühen Tonfilms in eine schalldichte Kabine zurückzieht – ganz auf die Qualität der Tonaufnahmen konzentriert. Doch nicht nur die viel zu schrille Stimme, sondern auch das expressive Spiel des Stummfilmstars Lina Lamont machen ihm zu schaffen. Jede Bewegung in dem aufwendigen Samtkleid erzeugt raschelnde Störgeräusche, jede Drehung des Kopfes nicht auszugleichende Lautstärkenunterschiede. Schliesslich wird Lamont an die Leine – das Kabel eines in ihr Kleid eingenähten Mikrofons – gelegt: Wie die schalldicht isolierten Kameras wird auch der Stummfilmstar seiner Bewegungsfähigkeit beraubt. Selbst ein Sprech- und Gesangsdouble wird engagiert – eine filmische Metapher für die Zerstückelung des Körpers in eine visuelle und eine auditive Sphäre.

Seitens der Filmtheoretiker wurde besondere Kritik am ‹Sprechfilm› geübt: Der Begriff wurde unter anderem von Rudolf Arnheim verwendet, um zu unterstreichen, dass in diesen Filmen nicht der kreativen Weiterentwicklung der Filmästhetik, sondern der Ausstellung und Verständlichkeit der Sprache grösste Priorität beigemessen wurde.3 Béla Balázs resümiert hierzu: «Die noch unterentwickelte neue Technik hat in der Verkopplung die alte, bereits hochentwickelte auf ein ganz primitives Stadium zurückgeworfen.»4 Auch Chaplin haderte mit der Vorstellung, dass der Tramp nicht mehr derselbe sein würde, begänne er zu sprechen.5 Den Stummfilm hielt er überdies für das universellere Medium, das im Gegensatz zum Tonfilm nicht an die Sprachkenntnisse des Publikums gebunden ist.6 The Great Dictator sollte dieses Manko beseitigen. Indem er die Problematik des ‹Verbo-Zentrismus› mithilfe von neuen ästhetischen Strategien – der Aufwertung der klanglichen Aspekte und der Kombination mit der Pantomime des Stummfilms – auflöste, kam Chaplin dem sehr nahe, was Béla Balázs schon einige Jahre zuvor gefordert hatte: «Auch beim Dialog wird der akustisch-sinnliche Eindruck ausschlaggebend sein, nicht das Inhaltliche.»7 Nicht also dem sprachlich codierten Inhalt, sondern den klanglichen Aspekten der Stimme sollte mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Chaplin brauchte drei Filme, um sich mit der Tontechnik und der damit einhergehenden veränderten Ästhetik anzufreunden. Zwar kann City Lights (US 1931) noch als Verteidigung der Stummfilmkunst verstanden werden. Dennoch geht Chaplin höchst kreativ mit den Möglichkeiten des Filmtons um, etwa indem er mit quäkend verfremdeten Sprachklängen den Akt einer Denkmalenthüllung ad absurdum führt. Auch Modern Times (US 1936) funktioniert noch weitgehend nach den Prinzipien des Stummfilms. Allerdings verfügt der Film über eine Tonspur mit Musik, zahlreichen Geräuschen und sogar Stimmen. Am Ende glauben wir gar, den Tramp singen zu hören. Doch es bleibt unklar, ob es sich um seine wahre Stimme handelt, sodass der Stummfilm sein letztes Geheimnis behalten darf. Der Titel The Great Dictator geht hingegen schon etymologisch auf den lateinischen Begriff ‹dicere› (sprechen) zurück.8 Die Dramaturgie des Films wird zwischen zwei zentralen Reden aufgespannt – Hynkels zu Beginn und der des Friseurs am Ende. Chaplins scherzhafte Ankündigung, sich durch das Spielen eines Taubstummen dem Tonfilm entziehen zu wollen, war damit obsolet geworden.9

Stummfilmästhetik und das Potenzial des Tonfilms in The Great Dictator

Obwohl The Great Dictator zu einer Zeit in die Kinos kam, als der Tonfilm bereits seit einem guten Jahrzehnt etabliert war, ist der Prozess des Übergangs noch sehr präsent. Auf ironische Weise wird auf die Probleme der Sprachaufzeich­­nung angespielt: Eine Obstschale dient Hynkel als Gegensprechanlage (Abb. 1) – ein klarer Verweis auf den frühen Tonfilm, in dem die Mikrofone an den unmöglichsten Orten versteckt wurden, um eine annehmbare Sprachqualität zu erreichen. Wie der Diktator, der seine Befehle in Bananen und Weintrauben raunt, so schienen auch die damaligen Filmfiguren völlig unnatürlich mit Alltagsgegenständen zu kommunizieren. Gleichzeitig wird in The Great Dictator auf die Pantomime des Stummfilms zurückgegriffen. Chaplin bezog diese Vorgehensweise in erster Linie auf die Figurenkonstellation:

Als Hitler konnte ich die Massen grosstuerisch in ihrem Jargon bearbeiten und so viel sprechen, wie ich wollte. Als Tramp konnte ich dann mehr oder minder still bleiben. In einem Hitler-Film konnte ich Burleske und Pantomime miteinander verbinden.10

Mit dem Tramp meint Chaplin den jüdischen Friseur, der in Auftreten, Habitus und Gestik der berühmten Stummfilmfigur sehr ähnlich ist. Die äusserst kommunikative Körpersprache steht im Kontrast zur verkrampften Gestik Hynkels, der grosse Probleme hat, sich nonverbal verständlich zu machen: Bei der Begrüssung von Benzino Napolonie – einer Parodie auf Benito Mussolini – verfehlen die beiden Diktatoren immer wieder die Hand des anderen, die sie abwechselnd zum tomanischen bzw. bakterischen Gruss heben. Während der Friseur zunächst weitgehend stumm bleibt, tritt der Diktator mit einer ausführlichen Rede in Erscheinung. Mit der hierfür entwickelten lautmalerischen Fantasiesprache gelingt es Chaplin, Hitlers Duktus genau zu re- und letztlich auch zu dekonstruieren. Chaplins Sohn Sidney Earle berichtet, dass sich sein Vater zur Vorbereitung auf diese Rolle alle verfügbaren Wochenschau-Aufnahmen des deutschen Diktators habe kommen lassen:

Stundenlang sass er in seinem Privattheater und betrachtete diese Filmstreifen. [...] Dad studierte jede Pose des Diktators, machte sich alle Eigenheiten seines Benehmens zu eigen und war von dem Gesamteindruck gefesselt.11

Sprachlich bedient sich Chaplin einiger deutscher und an das Deutsche angelehnter Begriffe wie ‹Sauerkraut› und ‹Dschuten› (Juden) sowie deutsch klingender Lautmalereien und Eigennamen wie ‹Schultz› und ‹Bismarck›. Ohnehin mit einer englischen Bedeutung versehene Namen wie Garbitsch (garbage = Müll) und Herring (herring = Hering) – die filmischen Pendants zu Goebbels und Göhring – werden in englisch-deutsche Wortspiele integriert. Diese sprachlichen Codes werden sowohl mit einer expliziten Gestik als auch körperlichen Stimmmodulierungen – bis hin zu stakkatohaften Hustenanfällen und grunzenden Lauten – vermischt. Während er Hitlers Gestik und Mimik mit der Pantomime des Stummfilms imitiert, bedient sich Chaplin gleichzeitig der Geräuschhaftigkeit und des Klangs der Sprache, um die auditive Präsenz des Diktators zu parodieren: So kann beispielsweise ‹de Aryan Meten› als ‹die arischen Mädchen› übersetzt werden, doch erst die gestische Andeutung eines schönen Gesichts und langer Haare bestätigt diese Annahme.

Neben dem sprachlich-pantomimischen Gehalt im Sinne des logos wird die Materialität der Stimme als beinahe-kinetische Kraft herausgestellt. Die schneidend aggressiven Ausbrüche in Hynkels erster Rede lassen die ihn umgebenden Mikrofone förmlich zurückweichen und wieder hervorschnellen (Abb. 2). Alan Dale sieht hierin eine unmissverständliche Hommage an das Slapstick-Kino.12 Eine ähnliche Beobachtung kann in Bezug auf die zweite Rede Hynkels, die Verkündung der Judenverfolgung, gemacht werden. Der Friseur und Hannah befinden sich auf einem Spaziergang durch das jüdische Ghetto. Aus Dankbarkeit für die aktuelle Politik der Entspannung möchten sie sich sogar Hynkel-Ansteckbuttons kaufen. Da erklingt über Lautsprechermasten ein noch intensiveres Wüten als in der ersten Rede des Diktators. Diesmal sind ausschliesslich die ‹Dschuten› (Juden) Ziel seines vernichtenden Zorns. Ängstlich räumen die Ghettobewohner die Strasse. Der Friseur hingegen erstarrt, ehe er sich mit Hannah auf den Rückweg macht. Als Hynkels Ausbrüche immer intensiver werden, versucht er sich gar mit einem beherzten Sprung in ein Holzfass diesem auditiven Zugriff zu entziehen, besinnt sich aber auf die gemeinsame Flucht mit Hannah (Abb. 3–5). Beim darauffolgenden Versuch, den verlorenen Hut zurückzuholen, hangelt er sich im Rhythmus der Hasstiraden an einer Wand entlang, schleicht sich an den Hut heran, weicht zurück, ergreift ihn – und entkommt schliesslich dem herbeieilenden Sturmtruppensoldaten durch den akrobatischen Sprung in ein Kellerfenster. Die Gewalt von Hynkels Stimme wird durch Formen der physical comedy kontrapunktiert, die schon im Slapstick der Stummfilmära eine grosse Rolle gespielt haben. Durch die Prinzipien des Slapsticks, die eine ernsthafte Verletzung des Helden ausschliessen, kann Chaplin den inhaltlichen Schrecken und die Bedrohung durch den Nationalsozialismus in filmische Lösungsstrategien überführen.

Am Ende von The Great Dictator ergreift der kleine Friseur schliesslich selbst das Wort. In der Verkleidung des Diktators wendet er sich mit zunächst leiser, zaghafter Stimme an dessen Soldaten, an die Welt und nicht zuletzt auch an den Zuschauer. Zunehmend kraftvoller und mitreissender appelliert er an das Gute im Menschen, beschwört den Weltfrieden, die Völkerfreundschaft und die Solidarität. Nicht nur die schlichte Eleganz der Sprache, sondern auch Duktus, Klang und Tonfall sind ein diametraler Gegenentwurf zu den beiden Hynkel-Reden. Anstelle von Häme und Aggression bestimmen Eindringlichkeit und Emphase die Form der Rede. Der Körper des Friseurs ist hierbei weitgehend ruhiggestellt. Nicht die Gestik, sondern die Mimik bestimmt das Bild und befindet sich im Einklang mit der auditiven Ebene. Wie in Hynkels erster Rede wird zunächst mit einer frontalen Halbnaheinstellung gearbeitet, die nun jedoch durch eine langsame Kamerafahrt in eine Nahaufnahme übergeht. Nachdem auch schon der Diktator durch den Blick in die Kamera die direkte Adressierung des Zuschauers gesucht hat, wird die ‹vierte Wand› nun vollends eingerissen (Abb. 6). Der Zuschauer wird zu Chaplins Komplizen gemacht – eine weitere Hommage an den (frühen) Stummfilm, in dem dieses Stilmittel recht häufig zum Einsatz kam. Auch Hannah, die sich in ‹Osterlich› aufs Land geflüchtet hat, wird auf diese Weise adressiert. Zu den beschwörenden Worten des Friseurs, die nun aus dem Off erklingen, sind Hannahs überraschte Reaktionen zu sehen. Bild und Ton werden als gleichwertige Bedeutungsebenen behandelt, deren Zusammenwirken etwas Neues hervorbringt. Die Stimme wird hierbei von einer Problemzone, aus der das Körperliche zugunsten der Verständlichkeit des Dialogs möglichst weitgehend ausgetrieben werden sollte, zu einer ästhetischen Gestaltungsebene transformiert. Chaplins Inbrunst, mit der er die Rede vorträgt, kann ihre Wirkung erst durch die Modulation der Stimme sowie deren Klang und Körnung entfalten. Das Resultat ist eine substanzielle Aufwertung des Auditiven. Nicht umsonst ist das letzte Wort in The Great Dictator «Listen!» – die von Hannah formulierte Aufforderung zuzuhören, den Blick hoffnungsvoll gen Himmel gerichtet (Abb. 7).

Die politische Ästhetik der Reden in The Great Dictator

Charles Chaplin gilt als der erste politische Filmstar.13 Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, engagierte er sich schon früh für den ‹kleinen Mann›, dessen Ängste und Nöte bereits in seinen Stummfilmen eine tragende Rolle spielen. Doch die auf diese Weise vorgebrachte Kritik an Politik und Gesellschaft ist noch recht indirekt und innerhalb der geltenden Normen zu lösen. Erst die schrittweise Zuwendung zum Tonfilm ging mit einer weiteren Politisierung einher. Noch heute gilt sein Film Modern Times als geradezu prototypische Kritik an Industrialisierung und rücksichtslosem Kapitalismus. Trotz der verhältnismässig geringen Einspielergebnisse entschied sich Chaplin, diesen Kurs beizubehalten. Mit The Great Dictator ging er schliesslich das grösste finanzielle Wagnis seiner Filmkarriere ein; er investierte etwa zwei Millionen Dollar aus eigener Tasche, nachdem niemand den Film finanzieren wollte.14

Mit Sorge betrachtete Chaplin die Konsolidierung des Nationalsozialismus in Deutschland, die entscheidend durch die Übertragung und Inszenierung von Reden und Propaganda im Rundfunk begünstigt wurde.15 In diesem medialen Krieg, der sich auch auf die politische Haltung des amerikanischen Volkes auswirkte, musste ihm der Tonfilm als wirkungsvolles Gegenmittel erschienen sein. Chaplin nutzte das ästhetische Potenzial des Filmtons, um eine bis dahin ungekannte politische Ausdruckskraft zu entfesseln. Er erkannte im Tonfilm offenbar das, was Andreas Dörner sechs Jahrzehnte später als «Kern des politischen Imaginären» bezeichnet, «das unsere Vorstellungswelten, unsere Wahrnehmungsgewohnheiten und somit auch die Materialität unserer politischen Phantasie nachhaltig prägt».16 Seine filmische Darstellung der politischen Rede steht im Zentrum dieser Überlegungen, indem sie sprachliche und ästhetische Codes miteinander vermischt.

Der erste Auftritt des Diktators erinnert stark an die Darstellung des Nürnberger Reichsparteitags in Leni Riefenstahls Triumph des Willens (DE 1935). Der Film war Chaplin bekannt, sodass davon auszugehen ist, dass die Inszenierung des Diktators auf einer riesigen Rednertribüne Riefenstahls Ästhetik nachempfunden ist.17 Das genaue Kopieren und ästhetische Überzeichnen von Hitlers Duktus, Mimik und Gestik macht die Rede auch für politisch unerfahrene Zuschauer anschlussfähig. Die sich in Klang, Timbre, Rhythmus und Körperlichkeit entfaltende ‹Tongeste›18 zielt auf «das Instinkthafte, Eruptive, der Logik sich Entziehende» und stellt damit «den rhetorischen Charakter des Faschismus an den Pranger».19 Dennoch können konkrete Bezüge zu Hitlers Originalreden hergestellt werden. Die triebhaft-aggressive sprachliche Ebene wird in Kombination mit Chaplins Pantomime mit inhaltlicher Bedeutung aufgeladen. Wenn Hynkel so tut, als wiege er ein Baby in den Armen, und dann mit beiden Händen das schrittweise Aufwachsen des Kindes andeutet, wirken seine stakkatohaften, fantasiesprachlichen Aussagen wie ein Ausschnitt aus Hitlers vielzitierter Rede in Reichenberg 1938, in der dieser die nationalsozialistische Vereinnahmung der Jugend thematisiert (Abb. 8).20 Durch das Zusammenwirken auditiver und visueller Elemente wird eine politische Referenz erzeugt. Eine weitere politische Bedeutungsebene bildet der Voice-over-Kommentar, der einerseits im Gestus eines Simultanübersetzers Glaubwürdigkeit reklamiert und andererseits Hynkels Aussagen massgeblich verfälscht: Die mit beissendem Zynismus vorgetragene Hasstirade gegenüber den ‹Dschuten› wird mit der lapidaren Formulierung abgetan, der Diktator habe sich gerade an den jüdischen Teil der Bevölkerung gewandt. Diese fahrlässige Verharmlosung spielt auf die amerikanische Appeasement-Politik an, die es den Nationalsozialisten ermöglichte, international beinahe unbehelligt die Tschechoslowakische Republik zu besetzen und Österreich in das eigene Staatsgebiet einzugliedern.

Die auf aggressive Expansion und Unterdrückung ausgelegte nationalsozialistische Ideologie wird am Ende des Films in konkrete Worte gefasst. Die kurze Ansprache Garbitschs lässt keinen Zweifel daran, dass die zuvor ins Filmische übersetzte und der Lächerlichkeit preisgegebene nationalsozialistische Ideologie dennoch eine ernsthafte Bedrohung für die gesamte Welt ist. Das reale Böse streift die Maske des Filmischen ab. Chaplin tut es ihm gleich und appelliert direkt an ein klar umrissenes Publikum – an die Amerikaner im Geiste des Appeasements, die er geradezu «aufzustacheln versucht».21 Damit bricht er mit den damals üblichen Hollywood-Konventionen, die eine gemässigte politische Botschaft und ein in sich geschlossenes Filmende vorsahen.22

Die in der finalen Rede verwendete Sprache ist überdies frei von jeder Komik. Während Hynkels Ansprachen durch die ungefilterte, pure Stimme und deren ‹Rauheit› geprägt sind, formt der Friseur jedes Wort sorgsam und bedacht. Fast wirkt es, als singe er vom Kampf gegen Unrecht und Unterdrückung, für Freiheit und Gleichheit. Der sanfte und dennoch kraftvolle Klang der Stimme geht mit der emotionalisierenden Wirkung der Musik einher. Es ist das zweite Mal in diesem Film, dass das Vorspiel von Wagners «Lohengrin» erklingt. Beim ersten Mal, während Hynkels berühmten Tanzes mit der Weltkugel, evoziert das Stück noch eine Ahnung von Pathos und Grössenwahn. Diese Zuschreibungen werden nun durch einen transzendenten Ausdruck der Hoffnung abgelöst. Die via Rundfunk entkörperlichte Stimme erreicht selbst entlegenste Regionen, wie der Schnitt auf Hannah in ihrem ländlichen Exil zeigt. Die verbal beschworene, verbindende Wirkung der Medien wird auf diese Weise als konkrete Utopie inszeniert. Indem er Hannah auffordert, gen Himmel zu blicken, bietet Chaplin zudem Orientierung in einer Zeit von Chaos und Verunsicherung. Auch der konkrete Hinweis auf das Lukas-Evangelium («Im siebzehnten Kapitel des Lukas-Evangeliums steht geschrieben, das Reich Gottes sei im Menschen – nicht in einem Menschen oder in einer besonderen Gruppe von Menschen, sondern in allen!») kann in diesem Sinne gedeutet werden und zeigt, wie sehr die Rede in der biblischen Tradition der USA verankert ist. Chaplin entwickelt einen positiven Freiheitsbegriff, in dem die Identität des Einzelnen eng an die der Gemeinschaft geknüpft ist:

Für seine Freiheit muss jedes Mitglied der Gemeinschaft zur Not auch mit dem eigenen Leben einstehen, und jede Autorität, die der Entfaltung dieser Freiheit entgegensteht, ist zu bekämpfen, da sie keine politische Legitimation aufweist.23

Zu diesem Kampf ruft Chaplin auch den Zuschauer auf, für den es seinerzeit darum ging, in einen ganz realen Krieg gegen Unrecht und Unterdrückung zu ziehen.

Nicht die Begeisterung für die neue Technologie, sondern der feste Wille, die weltpolitische Lage nicht unkommentiert zu lassen, trieb Charles Chaplin an, das ästhetische Potenzial des Tonfilms neu auszuloten. Dies betrifft vor allem die filmische Darstellung der politischen Rede. Deren sprachliche Ebene wird im Hinblick auf Rhythmus, Klang, Timbre und Tonfall ästhetisiert und mit anderen auditiven und visuellen Elementen – wie Musik und Chaplins Pantomime – kombiniert. Die vormals von Theoretikern wie Béla Balázs und Rudolf Arnheim konstatierte Problematik des Sprechens im frühen Tonfilm wird hierdurch aufgelöst. Während Chaplins ausgeklügelte Ästhetisierungsstrategien die Reden Hitlers einerseits der Lächerlichkeit preisgeben und andererseits ein Bewusstsein für die Gefahren durch den Nationalsozialismus schaffen, entwirft die finale Ansprache des Friseurs eine konkrete politische Utopie, die an den Freiheitsbegriff der biblischen Tradition der USA anknüpft. Der abschliessende Schnitt auf Hannah, die dank des Radios auch weit entfernt diesen Appell vernimmt, befreit die mediale Repräsentation und Verbreitung politischer Reden aus dem nationalsozialistischen Zugriff.

Vgl. Brian Currid, A National Acoustics: Music and Mass Publicity in Weimar and Nazi Germany, Minneapolis u. a. 2006, S. 102.

Vgl. Michel Chion, Audio-Vision: Ton und Bild im Kino, Berlin 2012, S. 17.

Vgl. Rudolf Arnheim, Film als Kunst, Frankfurt 1979, S. 227ff.

Béla Balázs, Der Geist des Films [1930], Frankfurt 2001, S. 113.

Vgl. Ira S. Jaffe, «‹Fighting Words›: City Lights, Modern Times, and The Great Dictator», in: Journal of the University Film Association, Vol. 31, No. 1, Chaplin and Sound (1979), S. 23.

Vgl. Adrian Daub, «‹Hannah, Can You Hear Me?›: Chaplin’s Great Dictator, ‹Schtonk,› and the Vicissitudes of Voice», in: Criticism, Volume 51, Number 3 (2009), S. 467.

Balázs (wie Anm. 4), S. 127.

Vgl. Michel Chion, Film, a sound art, New York 2009, S. 24.

Vgl. Balázs (wie Anm. 4), S. 143.

Charles Chaplin, Die Geschichte meines Lebens, Reutlingen 1964, S. 398.

Norbert Aping, Liberty Shtunk! Die Freiheit wird abgeschafft: Charlie Chaplin und die Nationalsozialisten, Marburg 2011, S. 339.

Vgl. Alan Dale, Comedy is a Man in Trouble: Slapstick in American Movies, Minneapolis 2000, S. 31.

Vgl. Steven Joseph Ross, Hollywood Left and Right: How Movie Stars Shaped American Politics, Oxford 2011, S. 11–49.

Vgl. Jost Hermand, «Satire und Aufruf: Zu Chaplins Antifaschismus», in: Charles Chaplin, Die Schlussrede aus dem Film «Der große Diktator» (1940), Hamburg 1993, S. 31–36.

Vgl. Inge Marszolek, «Ganz Deutschland hört den Führer: Die Beschallung der ‹Volksgenossen›», in: Gerhard Paul / Ralph Schock (Hg.), Der Sound des Jahrhunderts. Geräusche, Töne, Stimmen 1889 bis heute, Bonn 2013, S. 186.

Andreas Dörner, Politische Kultur und Medienunterhaltung: Zur Inszenierung politischer Identitäten in der amerikanischen Film- und Fernsehwelt, Konstanz 2000, S. 162.

Vgl. Aping (wie Anm. 11), S. 341–342.

Vgl. Béla Balázs, Der Film: Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1972, S. 210.

Hermand (wie Anm. 14), S. 46.

Vgl. Michael Grüttner, Brandstifter und Biedermänner: Deutschland 1933–1939, Stuttgart 2015, S. 288ff.

Hermand (wie Anm. 14), S. 16.

Vgl. Charles J. Maland, Chaplin and American Culture: The Evolution of a Star Image, Princeton 1989, S. 177–178.

Dörner (wie Anm. 16), S. 224–225.

Rasmus Greiner
*1983, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Filmwissenschaft und der Geschichte Lateinamerikas an der Universität Bremen und Redaktionskoordinator des eJour­nals www.nachdemfilm.de. Seine Forschungs­schwer­punkte und Publikationen umfassen das Verhältnis von Filmästhetik und Geschichte, Audio History, Genre Studies sowie Krieg und audiovisuelle Medien. Er ist Mitherausgeber der Bücher: Reality Unbound. New Departures in Science Fiction Cinema (2016) und Film und Geschichte. Produktion und Erfahrung von Geschichte durch Bewegtbild und Ton (2015).
(Stand: 2018)
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