CHARLOTTE TRIPPOLT

DER NEUE JUGOSLAWISCHE FILM — KÜNSTLERISCHE FREIHEIT, SOZIALISMUS UND ZENSUR

ESSAY

«For me it was more like a game. They hit us, and then we hit back.» Diese Beschreibung des Neuen Jugoslawischen Films stammt vom serbischen Drehbuchautor Branko Vučićević.1 ‹They› – das waren die Produzenten, Journalisten, Staatsanwälte, Richter und der Filmliebhaber Josip Broz Tito selbst, die, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu dessen Tod 1980, dem Kunstverständnis der kommunistischen Partei Jugoslawiens entsprechend, über das Schicksal der heimischen Filme entschieden, indem sie diese dem Publikum zeigten oder durch Zensur vorenthielten. ‹We› – das waren die Regisseure, Kameramänner und Drehbuchautoren, die sich seit den Fünfzigerjahren in den jugoslawischen Kinoklubs zusammengefunden hatten, für einen freien Film kämpften und damit den Neuen Jugoslawischen Film aus der Taufe hoben.

Die Kinoklubs in Zagreb, Split, Sarajevo, Skopje, Novi Sad und Belgrad entstanden als Folge des im Jahr 1950 eingeführten Selbstverwaltungssystems, das die Dezentralisierung des Landes zum Ziel hatte. Die Klubs übernahmen die Aus- und Weiterbildung filminteressierter Amateure und unterstützten sie bei ersten eigenen Produktionen.2 Das Equipment liehen sich die angehenden Filmemacher von den staatlichen Produktionsfirmen, denen sie im Gegenzug dafür die fertigen Produktionen zum freien Vertrieb anboten.3 Vielen Amateuren gelang so der Sprung in die Professionalität. Über die Kinoklubs erfolgte auch die Vernetzung der Filmschaffenden über die Grenzen der Teilrepubliken hinweg. Trotzdem bildeten sich relativ rasch regionale Schwerpunkte heraus. In Zagreb etwa arbeiteten die Amateure verstärkt im Bereich des Animations- und Experimentalfilms, während man sich in Belgrad hauptsächlich mit Dokumentar- und Spielfilm beschäftigte.4 Der Neue Jugoslawische Film entwickelte so verschiedene Schulen, deren wohl bekannteste aufgrund ihres internationalen Erfolges die Belgrader Schule ist. Ihre Vertreter, zu denen auch Vučićević zählt, gerieten zudem besonders häufig mit der nationalen Zensur in den Clinch.

Der Schlagabtausch zwischen den jugoslawischen Filmemachern und den Behörden dauerte gut zwanzig Jahre. Während die Erstgenannten immer experimentierfreudiger und angriffslustiger wurden und die sozialistische Gesellschaft schonungslos und mit viel Humor und Ironie kritisierten, wurden für Letztere Form und Inhalt der Werke immer anarchischer und antikommunistischer, weshalb sich der Neue Jugoslawische Film in der öffentlichen Wahrnehmung von einer kinematografischen Strömung rasch in eine Problemzone verwandelte, die es zu bekämpfen galt. 1971 gelang den Behörden mit der Verhaftung und Verurteilung des Regisseurs Lazar Stojanović der entscheidende Schlag. Viele Filmschaffende begriffen den Ernst der Lage, wanderten ins Ausland ab oder legten ihre Arbeit nieder. Wie war es so weit gekommen? Was war am Neuen Jugoslawischen Film so problematisch, dass die im Ausland stets gepriesene künstlerische Freiheit im sozialistischen Staat plötzlich nichts mehr galt? Und wer waren die Leute, die sich dieses Kräftemessen mit den kommunistischen Autoritäten lieferten?

Zurück zu den Anfängen

In der Sekundärliteratur wird Dvoje (And Love Has Vanished, YU 1961) von Aleksandar Petrović häufig als Beginn des Neuen Jugoslawischen Films genannt, weil das Thema, eine Liebesgeschichte, eine deutliche Zäsur in der jugoslawischen Filmgeschichte darstellt.

Bis Dvoje wurden in den grossen Produktionshäusern wie Avala Film in Belgrad, Jadran Film in Zagreb oder Sutjeska Film in Sarajevo hauptsächlich Filme produziert, welche die Taten und Siege der kommunistischen Partisanenbewegung unter der Führung von Tito im Zweiten Weltkrieg glorifizierten. Diese sogenannten Partisanenfilme wurden ab 1945 und dann besonders um 1970 im Kampf gegen den Neuen Jugoslawischen Film vom Staat gefördert und von ideologietreuen Parteimitgliedern und deutschen Kriegsgefangenen, die über das nötige Fachwissen verfügten, angefertigt. Für den Dreh wurden Theaterschauspieler und Bühnentechniker angeheuert. Stilistisches Vorbild waren die Werke des Sozialistischen Realismus, die in den Dreissigerjahren in der Sowjetunion unter Stalin entstanden waren.5 Das Ergebnis waren Filme, die sich durch «naive and inept scenarios, exaggerated pathos, simplistic stereotyping, technical limitation and theatrical histrionics» auszeichneten.6 Wichtiger als ihr künstlerischer war ihr propagandistischer Anspruch. Die Partisanenfilme sollten das Publikum von der kommunistischen Ideologie überzeugen und ein neues, eben jugoslawisches Nationalbewusstsein befördern. Der Kommunismus hatte ja bereits in Kriegszeiten den Zusammenhalt zwischen den Geschlechtern und über ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg forciert und so den Sieg der Partisanen über die Okkupationsmächte, die faschistischen Ustascha und königstreuen Tschetniks erst ermöglicht.

Das jugoslawische Publikum interessierte sich aber kaum für die grossen Heldentaten der Vergangenheit. So auch nicht der ehemalige FAMU-Student Petrović, der lediglich die Menschen in ihrem Alltag zeigen wollte und in seinem ersten Spielfilm Dvoje die Gefühle junger Grossstädter füreinander skizzierte. Diese Hinwendung zur Gegenwart und zu intimen und persönlichen Themen wird zum ersten Merkmal des Neuen Jugoslawischen Films. Die kollektive Erinnerung an die Vergangenheit wird durch die Thematisierung individueller Schicksale ersetzt. Nicht das Verhältnis zur Nation ist wichtig, sondern das zum anderen Geschlecht und zu sich selbst.

Der regionale Kontext bleibt aber sichtbar. So unternehmen die Pro­tagonisten in Dvoje, begleitet von der Kamera, lange Spaziergänge und lassen Belgrad auf diese Weise zu einem sinnlichen Erlebnis für das Publikum werden. Nicht nur bei Petrović, auch bei Dušan Makavejev oder Jovan Jovanović wird die jugoslawische Grossstadt durch das Flanieren der Protagonisten zu einer selbstständigen und wiederkehrenden Erzählgrösse – eine Neuheit im jugoslawischen Film.

Grad (The City, YU 1963) heisst deshalb auch ein Omnibusfilm von Živojin Pavlović, Kokan Rakonjac und Marko Babac, der Momentaufnahmen des gesellschaftlichen Lebens in Belgrad zeigt. Sutjeska Film unterstützte die Zusammenarbeit des Trios, da sie an den Überraschungserfolg von deren Debut Kapi, vode ratnici (Raindrops Water Warriors, YU 1962) bei den Filmfestspielen in Pula anknüpfen wollte. Als die Regisseure aber eine von den Behörden nicht genehmigte Vorführung von Grad im Kinoklub Belgrad organisierten, informierte ein Mitarbeiter der Produktionsfirma aus eigennützigen Gründen die Zensoren darüber. In Abwesenheit von Babac, Rakonjac und Pavlović kam es zum Prozess. Grad wurde in ganz Jugoslawien verboten, alle auffindbaren Kopien vernichtet. Die Begründung: die Darstellung eines sinnentleerten Lebens in der Grossstadt und antikommunistischer Tendenzen sowie die Reduktion der Liebe auf körperliche Belange.7 Bis heute gilt Grad als der einzige offiziell zensurierte Film in der sozialistischen Republik.

Grundlegendes

Die drei Regisseure jedoch setzten ihre Arbeit fort und kämpften auch weiterhin mit Gleichgesinnten für die Befreiung des Films von der staatlichen Doktrin. Offiziell zensurierten die Behörden jene Filme, die

— sich gegen die gesellschaftliche und staatliche Ordnung Jugoslawiens, gegen den Frie­­den und die Freundschaft zwischen den Völkern oder gegen die Menschlichkeit rich­ten,

— die Ehre und das Ansehen des jugoslawischen oder eines anderen Volkes schädigen,

— die öffentliche Moral schädigen oder sich negativ auf die Erziehung der Jugend auswirken.8

Die vage Formulierung liess beiden Seiten viel Spielraum. Mit jeder inhaltlichen und stilistischen Abweichung vom Sozialistischen Realismus forderten die Regisseure die Zensurbehörde (un-)bewusst heraus und testeten ihre Toleranz. Der Neue Jugoslawische Film war also auch künstlerischer Aufruhr, Revolte oder gar Revolution.9

Die Vielfalt der filmischen Themen und Genres, der Ästhetik und der Wirkungsabsicht ist dabei auf die unterschiedliche Ausbildung der Regisseure zurückzuführen. Viele hatten fachfremde Studien wie Malerei, Rechtswissenschaften, Journalismus absolviert und nur in wenigen Ausnahmefällen Regie, bevor sie filmisch tätig wurden. Vor diesem Hintergrund mag es wenig überraschen, dass etwa Makavejev, ein ausgebildeter Psychologe, mit WR: Misterije organizma (WR: Mysteries of the Organism, YU 1971) einen Film über den österreichischen Psychoanalytiker Wilhelm Reich drehte. Oder dass in Praznik (The Feast, YU 1967) von Đorde Kadijević, einem diplomierten Kunsthistoriker, die Szenografie stark an die Gemälde von Pieter Bruegel und Leonardo da Vinci erinnert.

Auch ihre Vorbilder unterschieden sich stark voneinander. Makavejev wurde in seiner Arbeitsweise von Sergej Eisenstein, Pavlović von John Ford und Alain Resnais inspiriert. Das Idol von Stojanović und Karpo Aćimović-Godina hingegen war Jean-Luc Godard, bei dem Letztgenannter auch als Assistent tätig war.

Mit der sogenannten Praxis-Gruppe lässt sich ein gemeinsamer Einfluss feststellen. In den Sechzigerjahren entdeckte diese Gruppe jugoslawischer Philosophen und Soziologen die frühen Werke von Karl Marx wieder und propagierte in Anlehnung daran einen humanistischen Marxismus, welcher der Weiterentwicklung des jugoslawischen Sozialismus dienen sollte. Makavejev, Vučićević, Želimir Žilnik etwa, die die Praxis-Seminare besuchten, zeigten sich von deren Willen zur Veränderung inspiriert und wandten sich in ihren Werken verstärkt den einfachen Menschen und Randgruppen zu, um deren Probleme zu zeigen und im besten Fall auch zu lösen. Ein gutes Beispiel dafür ist wohl Žilniks Crni film (Black Film, YU 1971), in dem der Regisseur sechs Obdachlose in seiner eigenen Wohnung beherbergt, bis er selbst für sie eine dauerhafte Unterkunft gefunden hat. Das sozialpolitische und gesellschaftskritische Engagement der Filmemacher ist somit ein weiteres Charakteristikum des Neuen Jugoslawischen Films.

Trotz der Übereinstimmungen im Schaffen der Regisseure gibt es keine allgemeine Definition des Neuen Jugoslawischen Films. Dies hätte sicherlich auch die Arbeit der Zensurbehörde erleichtert. So aber musste sie aufgrund des Facettenreichtums der Strömung von Film zu Film entscheiden. Im Folgenden sollen einige wichtige Zensurfälle kurz aufgezeigt werden.

Unerwünschte Aufarbeitung

1968 erhielt Pavlović für Kad budem mrtav i beo (When I Am Dead and Pale), einen Film über einen arbeitslosen Vagabunden, die Goldene Arena in Pula. Im Folgejahr sollte deshalb seine nächste Produktion, Zaseda (The Ambush, 1969), die Filmfestspiele eröffnen. Wie Petrović mit Tri (Three, YU 1965), Puriša Đordevic mit Jutro (The Morning, YU 1967), Bata Cengić mit Mali vojnici (Little Soldiers, YU 1967) und Kadijević mit Praznik findet Pavlović einen sehr persönlichen und kritischen Zugang zum jugoslawischen Volksbefreiungskampf im Zweiten Weltkrieg. In Zaseda erzählt er von den Abenteuern des Schülers Ive, der sich aus jugendlichem Idealismus heraus der Partisanenbewegung anschliesst. Die Partisanen aber sind keine selbstlosen Helden, sondern Egoisten, Alkoholiker, Schacherer und Diebe, denen es letztendlich nur um die Befriedigung der eigenen Triebe geht. Uniformen sind schnell ausgezogen, Körper schnell miteinander vereint. Am Ende bringt nicht der Feind, sondern die Partisanen selbst Ive um, der sich nicht ausweisen kann. Seine letzten Worte lauten: «Und ihr also wollt die Revolution sein.»

Bereits im Vorfeld der Festspiele verdammte der Parteikader Zaseda als antikommunistisch, Pavlović aber nannte es sein kommunistischstes und bestes Werk.10 Wie seine Mitstreiter lehnte auch er nicht den Kommunismus per se, sondern das jugoslawische Verständnis davon ab.11 Zaseda wurde als Eröffnungsfilm dennoch nicht, wie eigentlich üblich, in der grossen Arena, sondern in einem kleinen Kinosaal gezeigt. In der Tageszeitung Borba berichtete der Ideologe Vladimir Jovicić über diesen Vorfall und nannte Zaseda Teil einer «schwarzen Welle» im heimischen Film.12 Der Begriff wurde von orthodoxen Kommunisten, Journalisten und Kritikern gleichermassen für sämtliche Werke des Neuen Jugoslawischen Films übernommen, die in ihren Augen eine allzu pessimistische und antisozialistische Weltanschauung propagierten. Zaseda wurde nach den Filmfestspielen erneut der Staatsanwaltschaft und einigen Politikern vorgeführt, die den Film wie folgt kommentierten: «Das ist ein vollkommenes Werk, wir werden nicht intervenieren, aber wir werden es auch nicht zeigen.»13 Der Film verschwand so aus den jugoslawischen Kinos, blieb aber für die jüngere Generation des Neuen Jugoslawischen Films – wie auch Pavlović frühere Werke – ein Lehrstück in der naturalistischen Darstellung von Körperlichkeit, Nacktheit und Sex.

Körper und Kommunismus

Anders als in den Partisanenfilmen hat der Körper im Neuen Jugoslawischen Film keine Verweisfunktion. Die Regisseure verhöhnten dessen ideologische Inbesitznahme oder wiesen sie zurück, indem sie Menschen in langen Einstellungen beim Essen, bei der täglichen Hygiene, beim Schlafen, beim Tanzen, beim An- und Ausziehen, beim Sex usw. zeigten. Der menschliche Körper tritt hier als Beobachtungsgegenstand auf. Schauspielerinnen wie Eva Ras oder Milena Dravić entkleideten sich im Namen der Kunst vor laufender Kamera, um dem Körper seine Natürlichkeit zurückzugeben. Deutlich wird dieser Ansatz bereits in den Kurzfilmen der Amateure, mit denen sie ihre Karriere in den Kinoklubs begannen und die im Vorprogramm der abendlichen Kinovorstellungen liefen. Žilnik begleitete in Nezaposleni ljudi (The Unemployed, YU 1968) Arbeitslose in ihrem Alltag und filmte ihre schlechten Zähne, Verletzungen und Muskeln in Nahaufnahme, Makavejev thematisierte in Antonijevo razbijeno ogledalo (Anthony’s Broken Mirror, YU 1957) und Spomenicima ne treba verovati (Don’t Believe in Monuments, YU 1958) die körperliche Beziehung zwischen Menschen und menschlichen Abbildern.

Mit fortschreitender Entwicklung des Neuen Jugoslawischen Films und vor dem Hintergrund der Studentenproteste 1968 wurden Körperlichkeit und Nacktheit stärker politisiert. 1969 drehte Žilnik mit Rani radovi (Early Works, YU) seinen ersten Spielfilm und das erste jugoslawische Roadmovie, das als Fortsetzung seines Kurzfilms Lipanjska gibanja (June turmoil, YU 1968), eines filmischen Zeitzeugnisses der Belgrader Studentenunruhen im Juni 1968, angelegt war. Mit Slobodan Aligrudić hatte Žilnik nur einen einzigen professionellen Schauspieler engagiert. Er drehte im Freien, ohne genaue Anweisungen, und benötigte lediglich 23 Drehtage. Zu einer solchen Arbeitsweise hatten ihn – wie die meisten Regisseure des Neuen Jugoslawischen Films – die fehlenden finanziellen Mittel gezwungen.

In Rani radovi fordern drei junge Männer, ähnlich wie die Belgrader Studenten, die Umsetzung des Parteiprogramms der jugoslawischen Kommunisten und, ähnlich wie die PRAXIS-Gruppe, die Revision des jugoslawischen Sozialismus auf der Basis der Schriften des jungen Karl Marx. Angeführt werden sie von einer attraktiven Blondine namens Jugoslava, die von der ehemaligen Miss Jugoslawien, Milja Vujanović, verkörpert wird. Auf ihrem Feldzug durch das Land streben sie ihre politische, geistige und physische Befreiung an, indem sie freie Liebe praktizieren und ihren Körper verschiedenen Vergnügungen und Belastungsproben aussetzen. In einer Szene werden die vier von Bauern verprügelt. Als die Laiendarsteller die junge Frau vergewaltigen wollten, schritt Žilnik ein und erinnerte sie an ihre Rollen. Fiktion und Realität liegen eben nah beieinander.

Titos Reaktion auf Rani radovi fiel spärlich aus. «Was wollen diese Idio­ten?», fragte er bereits wenige Minuten nach Filmbeginn und reagierte damit ähnlich wie jene Kritiker und Journalisten, welche die im Film verlesenen Marx-Zitate einem Scharlatan zuordneten.14 Žilnik wurde der Prozess gemacht, in dem sich der ausgebildete Rechtsanwalt selbst verteidigte.15 Ein Aufführungsverbot von Rani radovi konnte er zwar verhindern, musste jedoch drei (Sex- bzw. Schlüssel-)Szenen aus dem Film entfernen, welche die Zensurbehörde als unnötig und brutal empfand.

Dieses Urteil hielt die Kommission, die jugoslawische Produktionen für internationale Filmfestspiele nominierte, jedoch nicht davon ab, Rani radovi um den Goldenen Bären in Berlin ins Rennen zu schicken: «Uns hat der Film nicht gefallen, aber wir sind sicher, dass er dort Erfolg haben wird. Warum sollten wir ihn auch nicht hinschicken, wo er doch bereits finanziert, gedreht, zensuriert und freigesprochen wurde?»16 Die Aussage macht die Widersprüchlichkeit im staatlichen Umgang mit dem Neuen Jugoslawischen Film sichtbar. Künstlerische Freiheit und Kritik wurden bis zu einem gewissen Masse von den Behörden toleriert, um im Ausland den Ruf eines liberalen Sozialismus aufrechtzuerhalten.

Rani radovi gewann den Goldenen Bären. Das jugoslawische Publikum aber verurteilte Žilniks «Koketterie mit den revolutionären Traditionen» und boykottierte die Filmvorführungen, sodass Rani radovi 1970 aus dem Verleih genommen werden musste und bis 1982 nicht mehr gezeigt wurde.17

Serbian Cutting

Die moralische Krise der Jugend und ihr Aufbegehren gegen die bestehende Ordnung, die Žilnik in Rani radovi beschreibt, waren häufige Themen im Neuen Jugoslawischen Film. Auch in Horoskop (Horoscope, YU 1969) von Boro Drasković, Mlad i zdrav kao ruža (Young and Healthy as a Rose, YU 1971) von Jovan Jovanović und Vrane (The Crows, YU 1969) von Ljubiša Kozomara und Gordan Mihić finden sich desillusionierte und aufmüpfige Jugendliche in Gruppen zusammen, um aus den Strukturen auszubrechen. Die meisten von ihnen verfolgen dabei allerdings keine politische Vision, sondern handeln aus Langeweile und Unmut.

Anders Milena, die Hauptfigur in Makavejevs WR: Misterije organizma: Sie propagiert ähnlich wie Jugoslava die sexuelle Befreiung und bezieht sich dabei auf Wilhelm Reich, laut welchem die Unterdrückung des Sexualtriebs den Boden für totalitäre Systeme bereitet. Diese totalitären Systeme – für Makavejev sind dies der Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus, Kapitalismus – werden im Rahmen von Milenas Liebesbeziehung mit dem sowjetischen Eiskunstläufer Vladimir Ilić mokiert, diskutiert und mit eingespielten (film-)historischen und dokumentarischen Sequenzen illustriert. Die aufeinanderfolgenden Sequenzen stehen teilweise in einem solch krassen inhaltlichen und ästhetischen Gegensatz zueinander, dass sich beim Zuschauer ein Gefühl der Überforderung einstellt. Zum Beispiel als auf einen fiktiven Auftritt Stalins vor einer jubelnden Masse eine Einstellung der roten Skulptur des erigierten Penis von Screw-Herausgeber Jim Buckley, der von Nancy Godfrey eingegipst wurde, folgt. Der Zuschauer muss daraus seine eigenen Schlüsse ziehen. Makavejevs assoziative Montagetechnik, die unter dem Namen ‹Serbian Cutting› bekannt wird, ist eigentlich eine kreative Notlösung, die bei den Dreharbeiten zu Ljubavni slucaj ili tragedija službenice P.T.T. (Love Affair, or the Case of the Missing Switchboard Operator, YU 1967) zur Anwendung kam. Nachdem er und seine Assistenten, Vucicević und Žilnik, mit den Aufnahmen des dramatischen Höhepunkts unzufrieden waren, peppten sie diese kurzerhand mit dem im Schneideraum vorgefundenen Archivmaterial eines deutschen Studienfilms aus dem Jahre 1903 auf.18

Mit WR: Misterije organizma überforderte Makavejev wohl auch die Zensoren. Obwohl der Film 1971 bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt wurde und dort Standing Ovations erhielt, nahmen die Behörden ihn noch im selben Jahr aus dem offiziellen Filmregister und damit aus dem Verleih.19 Makavejev selbst wurde mit einer Haftstrafe gedroht, sollte er weiter arbeiten. Er emigrierte in die USA, WR: Misterije organizma aber blieb bis 1986 verboten.

Nachwehen

Nach Angaben von Žilnik ereilte rund fünfzig Produktionen des Neuen Jugoslawischen Films ein ähnliches Schicksal wie WR: Misterije organizma, weil sie von der kommunistischen Partei als problematisch wahrgenommen wurden.20 Die Alibi-Argumente waren stets dieselben: zu viel Gewalt, Sex und Nacktheit, antikommunistische Propaganda. Zensuriert wurden Werke von Bato Cengić, Krsto Papić, Boro Drašković, Jovan Jovanović, Miroslav Antić, Miodrag Popović, Puriša Đordević, Boštjan Hladnik, Karpo Godina, Jože Babić, Vatroslav Mimica und vielen anderen. Oft war die Zensur subtil und lässt sich deshalb schwerer als bei den besprochenen Produktionen nachverfolgen. So wurden manche Filme nur in den Nachmittagsvorstellungen, in den Sommermonaten oder lediglich wenige Tage in den jugoslawischen Kinos gezeigt, um damit kein allzu grosses Publikum zu erreichen. Andere Produktionen, wie etwa Kolt 15 Gap (YU 1971) und Mlad i zdrav kao ruža von Jovan Jovanović, verschwanden auf mysteriöse Weise einfach von der Bildfläche. Schriftliche Zeugnisse darüber gibt es nicht.

Solche Vorfälle häuften sich, je mehr Aufmerksamkeit den jugoslawischen Regisseuren im Ausland zuteilwurde. Mit dem Erfolg von Makavejev, Žilnik, Pavlović und Petrović bei den internationalen europäischen Filmfestspielen fühlte sich die kommunistische Partei mehr und mehr unter Druck gesetzt. Nicht alles konnte schliesslich im Namen der künstlerischen Freiheit toleriert werden. Als Stojanović in Plasticni Isus (Plastic Jesus, YU 1971) Tomislav Gotovac als Antihelden zeigt, der seinen Lebensunterhalt mit dem Dreh von Pornofilmen verdienen will, und die Handlung mit Archivmaterialien über Tito unterlegt, überspannt er den Bogen. Auf die Fernsehaufnahmen aus dem Jahr 1968, die ein verunsichertes Staatsoberhaupt vor dessen Ansprache an die protestierenden Studenten zeigen, folgt eine Einstellung, in welcher Gotovac nackt durch die Belgrader Strassen rennt und «Ich bin unschuldig!» schreit. Zufall? Wohl kaum. In den Augen der Behörden brach er damit das letzte Tabu: die Unantastbarkeit des Gründungsvaters der jugoslawischen Republik.

Stojanović, der mit Plasticni Isus an der Belgrader Akademie für Theater und Film diplomierte, wurde von der Geheimpolizei beschattet, 1972 verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Betreuer der Arbeit, Aleksandar Petrović und Živojin Pavlović, wurden ihrer Professur enthoben. Petrović protestierte und distanzierte sich öffentlich von seinem Schützling. Plasticni Isus sei, so Petrović in einem persönlichen Brief an Tito, «nichts anderes als feindliche politische Pornografie».21 Sein Anbiedern an die kommunistischen Machthaber zeigte jedoch keine Wirkung und so emigrierte er nach Frankreich. Pavlović blieb an der Akademie, wo er fortan als Verwalter des Lehrmittelkabinetts angestellt war. Der Kontakt zu den Studierenden war ihm untersagt. Seine Filme drehte er von da an im liberalen Slowenien.

Damit endete das Spiel, die Regisseure hatten den Kampf um einen freien Film verloren. Welche inhaltlichen und stilistischen Elemente die Behörden zur Zensur der Filme und zu repressiven Massnahmen gegen die Regisseure veranlassten, bleibt in vielen Fällen unklar. Letztendlich lässt sich der Umstand, dass der Neue Jugoslawische Film für die Behörden eine Problemzone darstellte, einzig und allein mit ihrem Kunstverständnis erklären. Kunst diente im Sozialismus vorrangig der Erziehung des Neuen Menschen und der kommunistischen Propaganda. Das Experimentieren mit Film und die Abwendung vom Sozialistischen Realismus waren ungern gesehen. Wer sich daran störte, konnte Filme bei der Zensurbehörde melden und so die notwendigen Schritte zu deren Aufführungsverbot einleiten. Damit beteiligten sich auch einfache Bürger an der Auslöschung des Neuen Jugoslawischen Films.

Mit grossem Erfolg. Die Spätfolgen sind auch Jahre nach dem Ende des Sozialismus und dem Zerfall Jugoslawiens zu spüren. Jene Werke, welche die Zensur überlebten, sind auch heute noch schwer für das filminteressierte Publikum zugänglich und meist nur als Mitschnitte von Fernsehausstrahlungen auf VHS-Kassetten erhältlich. Das noch auffindbare originale Filmmaterial bedarf dringend einer Restauration. Für die Nachwelt wird der Neue Jugoslawische Film deshalb wahrscheinlich nur die vage Idee einer künstlerischen Rebellion in einem repressiven System bleiben.

Zabranjeni bez zabrane (Censored Without Censorship, Milan Nikodijevi ´c / Dinko Tucaković, 2007)

Vgl. Greg de Cuir, Yugoslav Black Wave: Polemic Cinema from 1963–72 in the Socialist Federal Republic of Yugoslavia, Belgrad 2011, S. 44.

Vgl. Boris Kanzleiter / Krunoslav Stojaković, 1968 in Jugoslawien: Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975, Bonn 2008, S. 153.

Vgl. Ana Janevski, As soon as I open my eyes I see a film: Experiments in Yugoslav Art in the 60s and 70s, Warschau 2001, S. 59.

Vgl. Kanzleiter/Stojakovi ´c (wie Anm. 3), S. 153.

Daniel Goulding, Liberated Cinema: The Yugoslav Experience 1945–2001, Bloomington 2002, S. 16.

Vgl. Bogdan Tirnanić, «Kodeksi lepog ponašanje», in: NIN (31.1.1971).

Vgl. Arhiv Jugoslavije, Fond 147, Savezna komisija za pregled filmova, Schreiben vom 22.5.1964.

Vgl. Midhat Ajanović, «Vjecˇ ita utika magarca sa sijenom», in: Oslobod– enje (17.12.1989).

Vgl. Bogdan Tirnanić, Crni Talas ili prilozi za paralelnu istoriju nekadašnjeg jugoslovenskog filma, Belgrad 2006, S. 92.

Vgl. Nebojša Pajkić / Nenad Polimac / Slobadan Šijan, Živojin Pavlović: dva razgovora, Belgrad 1982, S. 39.

Vladimir Jovicić, «Crni val u našem filmu», in: Borba (3.8.1969).

Pajki ´c /Polimac/Šijan (wie Anm. 11), S. 39.

Vgl. Dž. Husić, «Ko koga šokira», in: Svijet (13.12.1968).

Vgl. Miroljub Vucˇ kovi ´c (Hg.), Želimir Žilnik: Iznad crvene prašine, Belgrad 2003, S. 97.

Ranko Munitić, «Filmski skandal na jugoslovenski nacˇ in», in: Vjesnik u srijedu (16.7.1969).

Vgl. Miodrag Kujuncić, «Bojkot», in: Dnevnik (10.4.1970).

Vgl. Pavle Levi, Disintegration in Frames: Aesthetics and Ideology in the Yugoslav and Post-Yugoslav Cinema, Stanford 2007, S. 18–28.

Vgl. P. Popović, «Misterije organizma nisu upisane u registar snimljenih filmova», in: Politika (16.7.1971).

Vgl. Želimir Žilnik im Gespräch mit der Autorin (12.4.2013).

Charlotte Trippolt
studierte Vergleichende Literaturwissenschaft an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck, Österreich. Sie verbrachte mehrere Jahre zu Forschungszwecken in Belgrad, Serbien. 2014 promovierte sie an der Universität Wien über die Repräsentation und Politik von Körpern im «Neuen Jugoslawischen Film». Arbeitete als ÖAD-Lektorin an der Universität in Hermannstadt, Rumänien, jetzt in Rijeka, Kroatien.
(Stand: 2018)
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