HANS J. WULFF

DRAMATISCHE REFLEXION DER ÖFFENTLICHEN ORDNUNG — BEMERKUNGEN ZU THE LADY IN THE VAN

ESSAY

Die öffentliche Ordnung gehört zur kulturellen Gliederung der Handlungsräume. Sie steht den privaten Sphären ebenso entgegen wie jenen Handlungsräumen, die institutionell geregelt sind: Schulen, Kirchen, Krankenhäusern und dergleichen mehr. Wer sich aus der eigenen Wohnung, die dem Öffentlichen nicht angehört, entfernt, tritt in eine eigene Welt der Regeln und Ziemlichkeiten, des Zulässigen und des Verbotenen ein, sei es, dass er/sie sich in freier Öffentlichkeit bewegt, sei es, dass er/sie institutionelle Sonderwelten betritt. Wer sich hier bewegt, hat sich unterzuordnen, die Freiräume sind oft eng bemessen.

Dabei ist die öffentliche Ordnung ein fragiler Zustand1, die Figur des Abweichlers ist vorprogrammiert. Wer gegen die expliziten oder unausgesprochen geltenden Normen und Regeln dieser Welt verstösst, läuft Gefahr, gemassregelt zu werden. Man kann darauf hingewiesen werden, dass man eine Regel übertritt oder eine Norm verletzt; man kann sozial ausgegrenzt oder zum Streitfall werden; oder man kann sogar zur Rechenschaft gezogen werden, wenn eine Regel explizit gefasst war und dennoch übertreten wurde (die Rede von der ‹Ordnungsstrafe› weist sogar begrifflich auf den normativen Aspekt der Sozialwelt hin). Die öffentliche Ordnung wird überwacht, steht unter dauernder Kontrolle – zuallererst durch die soziale Gemeinschaft, also aller, die sich in ihr bewegen und die eingreifen dürfen (und sollen), wenn es zu Störungen kommt. Sie wird darüber hinaus sogar durch die Rechtsordnung und ihre Vertreter geschützt.

Sie ist gefährdet nicht etwa durch den Wechsel der politischen Systeme, sondern durch die Tatsache, dass sie umlagert ist von personifizierten und permanenten Problemzonen: von Einzelnen oder Gruppen, die sich weigern, sich ihrem Diktat zu beugen. Es mag sich paradox anhören, wenn man behaupten wollte, dass gerade die Abweichung für die Stabilisierung der öffentlichen Ordnung zentrales Movens ist, weil sie gar nicht positiv bestimmt ist, sondern ihre Regeln aus dem Ex-negativo-Prinzip gewinnt. Genau das ist der Fall in The Lady in the Van (Nicholas Hytner, UK 2016). Dabei handelt der Film nicht von den ‹radikalen Abweichlern›, von Kriminellen, Junkies und Steuerbetrügern, sondern von einer Abweichung im Kleinen, im Unwägbaren und Alltäglichen. Der paradoxe Effekt aber, dass der Ausbruch aus den Normalitäten des gesellschaftlich Alltäglichen gerade dazu führt, dass das thematisiert wird und zur Bewusstwerdung gelangt, was die Ordnung des Zusammenlebens ausmacht, zeigt der Film in der ebenso verschmitzten wie raffiniert vorgetragenen Geschichte einer einzelnen Frau, die ganz nach ihren eigenen Regeln zu leben scheint und immer wieder an Grenzen des Normalen und Akzeptierbaren stösst.

Der unhinterfragte Glaube an das, was sich gehört, macht den Unterboden der öffentlichen Ordnung aus. Manches in ihr ist explizit (und juridikabel) geregelt, vieles angewiesen darauf, dass es in permanenter Bemühung stabilisiert oder sogar immer neu hervorgebracht werden muss. Die reale Geschichte2, die dem Stück The Lady in the Van von Alan Bennett zugrunde liegt, kommt durch eine solche Ordnungswidrigkeit in Gang: Die Titelfigur, eine exzentrische, obdachlose alte Dame namens Miss Shepherd (im Film gespielt von Maggie Smith), hatte den Lieferwagen, in dem sie lebt, normalerweise auf den Strassen in Camden Town, einem Londoner Wohngebiet, abgestellt, bis ihr die Stadtverwaltung untersagte, weiterhin auf Strassen zu parken. Die Regel ist klar: Die Strasse gehört allen und das Deponieren von Wohnbehältnissen ist eine nicht zulässige Privatisierung sozialen Eigentums! Die alte Frau bat Bennett um Asyl, um ihren Wagen in seiner Einfahrt hinzustellen (also auf privatem Grund!). Er gewährte es – und es dauerte fünfzehn Jahre, bis dieser Zustand mit ihrem Tod zu Ende ging.

Bennetts Stück und Hytners darauf basierender Film erzählen Miss Shep­herds Geschichte nach. Sie wird zum Brennpunkt permanenter Störung der öffentlichen Ordnung, die sich schnell als ganzes Feld möglicher Problemzonen erweist. Als ganzes Feld? Oder ist die Ordnung selbst eine Problemzone, die nicht feststeht und die keine Existenz ausserhalb ihrer Fragilität besitzt?

Die Störerin

Die Figur der Miss Shepherd lädt den Zuschauer wahrlich nicht ein, ihr mit Sympathie zu begegnen (abgesehen davon, dass sie von Maggie Smith – der Maggie Smith! – gespielt wird), ganz im Gegenteil: Sie läuft in Lumpen herum, die sie irgendwo aufgetrieben hat, trägt eine unförmige und meist unangemessene Kopfbedeckung. Sie stinkt, obwohl sie beteuert, sogar Auszeichnungen für Reinlichkeit bekommen zu haben. Sie lebt in ihrem uralten Lieferwagen, in einem Durcheinander von Plastiktüten mit Kleidungsstücken, Abfall, Essensresten und Ähnlichem. Und je weiter der Film fortschreitet, desto höher stapeln sich die Zeitungsbündel des Messies an den Aussenwänden. Miss Shepherds Lieferwagen sind rollende Heimstätten, sie parken auf der Strasse; oft sind die Wagen defekt, ihre Mobilität nur vorgetäuscht. Nur selten zieht Miss Shepherd um, sucht sich neue Nachbarn im immer gleichen Viertel. Sie ist wählerisch, hält nicht vor jedem Haus. Hat sie sich einmal niedergelassen, stopft sie Plastiksäcke mit allem Möglichen unter das Auto.

Ein Ärgernis, sollte man meinen. Ein Van als degenerierter Wohnwagen, in einem Wohnviertel Londons, in unmittelbarer Nachbarschaft der bürgerlichen Bewohner, die sich gelegentlich über die Preise ihrer Häuser unterhalten (deren Wert Miss Shepherds Anwesenheit wohl schmälert)! Noch dazu eine Inkarnation des Obdachlosen oder gar des Landstreichers, einer Figur im Ausserhalb der bürgerlichen Normalität! Ihr Gestank ist unerträglich; derjenige, der nach ihr in den Beichtstuhl will, wendet sich angewidert ab, worauf ihm der Priester aber zu verstehen gibt, ein Luftreiniger befinde sich hinter der Marienstatue. Scham scheint sie nicht zu kennen, doch ausziehen lassen will sie sich nicht, sie ziert sich (und ist doch glücklich, als sie einmal im Krankenhaus ausgiebig baden darf). Das Äussere der alten Frau induziert Abwehr. Sie berühren: nein! Wie wundert sich der Voice-over-Sprecher alias Alan Bennett, dass die Pfleger vom Krankenwagen sich ihr bis zur Berührung nähern, sie tatsächlich anrühren, sie gar umarmen, um sie in den Rollstuhl zu hieven – eine Zuwendung, die ihm selbst ganz unmöglich scheint.

Dabei hat die Alte einen von allem absehenden Gestaltungswillen: Die Autos müssen gelb gestrichen werden, und sie hält an dem Vorhaben sogar dann fest, als ihr ein Stück Kuchen in die Farbe gefallen ist – mit der Konsequenz, dass die Kuchenstücke wie Pickel aus dem dicken gelben Farbauftrag herausragen.

Sie ist sperrig und wehrt sich mit spitzer Zunge, wenn man sie angeht. Selbst wenn man ihr Geschenke bringt, bedankt sie sich kaum, weist die Schenkenden schnell ab. Sie will keine Hilfe, es sei denn, der Wagen muss umgeschoben werden. Das Sozialamt versucht sich um sie zu kümmern, was aber nur mühsam gelingt. Die Sozialarbeiterinnen scheinen resigniert zu haben, lassen sich auf das ein, was ihnen die Alte anbietet. Eine Einweisung in ein Altersheim kommt nicht infrage.

Miss Shepherd ist Provokation, Störung und Herausforderung des bürgerlichen Umfeldes gleichzeitig. Und hier kommt Unwägbares ins Spiel. So sicher man sich der Abwehr störender Elemente sein kann, so gewiss ruft die Figur des Anderen Ängste und Befürchtungen hervor. Das ist hier anders, weil die Situation ambivalent ist. Der Ekel bleibt. Hat sich die Alte einmal in grösster Not auf das Klo des Schriftstellers (und Erzählers) gerettet, um ihre Notdurft zu verrichten, so bewaffnet er sich sofort danach mit Putzmitteln, Schrubber und Eimer, um wieder Sauberkeit einkehren zu lassen. Vielfach tritt der Schriftsteller in Kot, der in seiner Einfahrt liegengeblieben ist, muss sich die Schuhe säubern. Dennoch verweist er die alte Frau nicht seines Grundstücks. Sie lebt fortan in seinem Vorgarten, geduldet, er begegnet der Alten mit distanzierter Freundlichkeit. So wie die Nachbarn sie als Faktotum ihres Viertels behandeln, distanziert, munkelnd und tratschend.

Der Beobachter

So sehr die Alte das Zentrum des filmischen Personals und der Aufmerksamkeit des Zuschauers zugleich ist, so wenig bemüht sich der Film um ihre Perspektive. Nein, ganz im Gegenteil: Sie wird aus dem Blick des Schriftstellers geformt. Er ist der Erzähler, seine Irritation und seine Neugierde tragen gleichermassen die Geschichte. Die Figur des erzählenden Schriftstellers Bennett (gespielt von Alex Jennings) ist sich offensichtlich der eigenen Beziehung zu der Alten nicht sicher. Der Film macht auch diese Unsicherheit greifbar, wenn er die Figur doppelt darstellt, die tatsächlich – oft im gleichen Bild – in zwei Körpern auftritt: Der eine schreibt, der andere ist im Leben. Verwunderung, Neugierde und bare Beobachtung können so miteinander verwoben werden, die Ambivalenz des Erzählers zu seiner Figur gewinnt strukturelle Gestalt.

Dieser poetische Kniff hat zwei Konsequenzen: Er rückt die Figur der Miss Shepherd in Distanz (zum Erzähler wie zum Zuschauer, möchte man ergänzen); sie bleibt eine Fremde, eine Andere. Und er etabliert den Erzähler als zweite Figur, ohne diese selbst explizit zum Thema zu machen, sondern indem er den Text einer fantastisch anmutenden Verunsicherung aussetzt.

Der eine Bennett liest, der andere erlebt. Alter und Ego des Schriftstellers fallen auseinander. Der Schreiber beobachtet, was geschieht. Und schreibt auf, was ihm auffällt. Wie die anderen Anwohner bleibt er selbstbezüglich und selbstgewiss, Gefangener seines Selbstbildes, risikoscheu und auf Distanz bedacht. Eigentlich schreibt er nur über sich selbst, als vermöge er es nicht, sich aus den Problemfeldern der eigenen Lebenspraxis zu lösen. Eines seiner Stücke führt er sogar selbst auf – es ist ein autobiografisches Geplänkel über seine Mutter, die am Ende ebenso alt ist wie Miss Shepherd, aber interesselos im Altersheim vor sich hinlebt. Die stinkende Alte scheint wie ein Gegenstück der Mutter zu sein, ein Konterbild, in dem ihm nicht Bevormundung, sondern renitente Selbstbestimmung begegnet.

Der Schreibende erlebt eine erste und tiefe Überraschung, als er mitbekommt, dass die alte Frau perfekt und gepflegt französisch spricht, Hinweis auf eine Bildungsgeschichte, von der er nichts ahnen konnte. Woher sie das kann, bleibt ihm aber ein weiteres Rätsel, das sie ihm aufgibt. Auf Nachfrage erzählt sie, sie habe studiert: Musik. Das Rätsel kann sich dem Schreiber-Erzähler nur vertiefen.

Trauma und Faszination

Ist es Lebensfremdheit? Die Erzählung ist aus dem Blick eines Bürgerlichen konfiguriert, dem Miss Shepherd als Antifigur erscheinen muss. Sie ist eine Fremde im eigentlichen Sinne des Wortes. Eine gegenüberstehende Figur. Wohl gerade aus dem Grunde, dass sie ihren Lebensstil selbstbewusst vertritt, sich auf keine Kompromisse einlässt, ist sie aber auch ein Faszinosum. Weil sie so anders ist als das Gewohnte, aber auch, weil sie sich keiner Regel beugt. Sie ist ein Geheimnis, weil sie in sich ruht.

Der Film unterfüttert das Rätsel. Die Alte wird erpresst, von einem Polizisten, wie sich erst ganz am Ende herausstellt, der sie über ihre Unschuld an einem Unfall (den wir in fragmentarischen und rätselhaften Bildern am Anfang des Films und später in Traumbildern auch zu sehen bekommen) im Unklaren lässt. Sie war einmal Nonne, zweimal sogar, doch sie verweigerte sich immer wieder, brach aus. Sie ist nach wie vor zutiefst religiös, betet in ekstatischer Versenkung, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, als sei sie in Trance versetzt. Einmal sehen wir sie mitten auf der Strasse, auf die Knie niedergelassen, ihr Lieferwagen ist in der Kurve geparkt. Ein Auto fährt heran, doch weicht sie nicht aus, als befinde sie sich in einem ‹Anders-Zustand›.

Dabei ist sie von Angst erfüllt. Todesangst. Einmal überfallen jugendliche Rowdys ihren Lieferwagen, schütteln den Wagen, versuchen ihn umzustürzen. Die Nachbarn vertreiben die jungen Männer, nicht sie selbst – sie ist panisch, Gefangene im Wagen. Erst nach und nach enthüllt der Film die Vorgeschichte: Schuld ist im Spiel, die sie sich selbst auferlegt hat und die sie gar nicht trägt. Schon die pre-title sequence, die mit Schwarzbild beginnt, über das sich die Geräusche des Unfalls legen, öffnet das Rätsel, das die alte Frau mit sich schleppt: Ein junger Motorradfahrer hatte sie gerammt und war bei dem Unfall gestorben. Obwohl sie den Unfall nicht verursacht hatte, war sie geflohen, hatte von da an ihr ruheloses Leben als Aussenseiterin aufgenommen. Als sie am Ende gestorben ist und sich als Geist auf dem Friedhof vom Schriftsteller verabschiedet, begegnet sie dem toten Jungen wieder, Hand in Hand. Der Erzähler-Schriftsteller ermöglicht ihr einen famosen und prächtig-kitschigen Abgang in Monty-Python-Manier: Die Wolken öffnen sich, Gottvater selbst, umgeben von Putten und Engeln, winkt ihr – und sie schwebt auf zum Himmel. Nirgends wird so deutlich, wie kindlich und naiv ihre Frömmigkeit ist, wie hier am Schluss, wenn sie in die Ikonografie des Kitsch-Katholizismus einfährt.

Doch ist die Figur komplexer. Auch dazu legt der Film am Beginn die Spuren aus. Nach der Unfall-Sequenz setzen historische Aufnahmen eines Klavierkonzerts ein: Eine junge Frau spielt den 3. Satz (Rondo – Vivace) aus dem 1. Klavierkonzert von Frédéric Chopin (op. 11, e-Moll). Die Konzertaufnahme wird am Ende des Films noch einmal erklingen – und die Aufnahmen gehen nun in üppige Farben über, die Erzählung lüftet das letzte Geheimnis Miss Shepherds: Das Klavierspiel wird als eigentliches Lebensthema greifbar, das sie doch nie wirklich leben konnte. Die Nonnen verboten es, verordneten ‹Entzug›, vielleicht, weil sie die Musik als Konkurrenz zur Religiösität und Keuschheit zölibatären Lebens ansahen, als ekstatisches Aussen klösterlicher Entsagung. Und der Priester untersagte das Klavierspiel ganz, weil es sie dazu verführe, mehr zu musizieren als zu beten. Dabei war sie einmal die Meisterschülerin eines weltbekannten Pianisten, selbst auf dem Sprung zu einer Solokarriere!

Die alte Frau reagiert mit Abwehr und Entsetzen auf Musik, wie sie etwa von den Kindern in der Nachbarschaft gemacht wird. Panik, Wut, Angst – es bleibt unklar, was sie umtreibt. Aber die Nähe von Musik, noch dazu schlecht gespielter, lässt sie ihren Van umparken. Dabei ist ihre Annäherung an das Klavier, das sie einmal in einem Gemeindezentrum erspäht, an dem sie Platz nimmt und nach einigen Blindanschlägen anfängt, das 3. Impromptu von Franz Schubert (op. 90, Nr. 3) zu spielen, so vorsichtig, als nähere sie sich einem magischen Gegenstand. Die kleine Szene spielt in völliger Entrückung – Grossaufnahmen auf das Gesicht, auf dem lesbar ist, wie sie in die Musik hineinzukriechen versucht, Grossaufnahmen auf die so faltigen Hände, die mit grösster Leichtigkeit über die Tasten gleiten. Ungeahnt und unangekündigt öffnet sich der Blick auf eine Tiefensensibilität der alten Frau, die so ganz von ihrem abgerissenen Äusseren überdeckt worden war. Dass hier zugleich eine erotische, ganz ins Ästhetische gewendete Energie greifbar wird, sei nur am Rande vermerkt.

Das Schauspiel Maggie Smiths dringt an dieser Stelle ganz in die Präsenz des Erlebens ein, die Spielende versinkt im Spiel, im Klang der perlenden Melodien. Wenige andere Szenen zeigen die Fähigkeit der alten Frau zum kindlichen Regress. Einmal lässt sie sich im Rollstuhl vom Schriftsteller die Strasse hinaufschieben; oben angekommen, dreht sie den Stuhl – und eine wilde, ungesteuerte Fahrt den Hügel hinab beginnt. Wieder versinkt die Umwelt, unmittelbare Freude lässt sich dem Gesicht ablesen. Und auch die Fahrt über die Hebebühne in einen Krankenwagen wird zum Spiel (unterstützt durch eine Untersicht, die der alten Frau sogar etwas Heroisches verleiht), zum Einbruch der Präsenz der Freude in den Alltag. Enttäuschung, als die Krankenpfleger ihren Wunsch nach «noch mal!» auf «später!» verschieben.

Die Nachbarn, die Zuschauer

Die Figur der Miss Shepherd ermöglicht eine Besichtigung der Ziemlichkeiten, der Zwänge und Beschränktheiten des bürgerlichen Lebens, weil sie ihnen so strikt entgegengestellt ist. Aber sie gestattet auch einen Einblick in die ästhetische Faszination der bürgerlichen Kultur an den ‹Anderen›. Um diesen Widerspruch geht es. Die alte Frau verstösst gegen die so mächtigen Regeln der Sesshaftigkeit, der Sauberkeit, der Höflichkeit. Sie bricht aus dem Regime des normalen Wohnens aus, so wie sie sich der Bevormundung durch die Behörden zur Wehr setzt. Aber sie zeigt auf der anderen Seite die Fähigkeit zu momentaner Freude, sogar zum Freude-Exzess. Und das bürgerliche Ideal der Erhöhung des Erlebens in der Kunst, zur Vollendung des Sinnlichen im Kunstgenuss lebt sie aus wie kein anderer, zumal ihr der so trockene und genussunfähige Schriftsteller ebenso zur Seite gestellt ist wie die Nachbarn, die Theaterstücke eigentlich nicht verstehen und zum Opernfestival nach Glyndebourne eher aus repräsentativen Gründen fahren, denn um die Opernaufführungen zu geniessen.

Das Ensemble der Nachbarn ist schnell erkennbar als eine Gruppe wohlhabend gewordener Alt-Linker. Die Faszination, die sie für die Alte haben – eine Mischung aus Schaulust und Abwehr, von Bezauberung und naserümpfender Distanzierung –, konstituiert sie als Inkarnation eines ‹Anderen›, eines innergesellschaftlich fremden Wesens. Die Auseinandersetzungen um den Umgang mit den Abweichlern, den ethnischen Minderheiten, den Obdachlosen und Nicht-Sesshaften, aber auch den psychisch Kranken und den Behinderten, den Alten und den Migranten – sie dominierten viele der Diskussionen vor allem linker politischer Gruppierungen in den Sechziger- und Siebzigerjahren. Sie strahlen immer noch in das Verhalten der nun bürgerlich Gewordenen hinein, als eine selbstauferlegte Zurückhaltung der im Spiel der Figuren immer spürbaren, strikten Ablehnung der Figur. Der ‹Andere› in einem generellen Sinne ist mit einem letztlich romantischen Nimbus umgeben, weil er auch eine Projektionsfläche bietet, auf der sich die unterdrückten Wunsch- und Befreiungsfantasien derjenigen bündeln lassen, die das Anderssein überhaupt erst konstituieren.3

Die Frage nach der inneren Repressivität der Nachkriegsgesellschaften der westlichen Welt wurde in den 1960ern zum Thema, mündete in eine Forderung nach dem ‹Recht auf Anderssein› als Form praktizierter Toleranz. Das selbstgewisse Ressentiment der Nachbarn zeigt aber, dass eine ideologisch generalisierte Toleranzforderung sich der Befangenheit ihrer Verfechter nur schwer (und vielleicht: nie) entledigen konnte. Nein, die Alte wird nicht reglementiert. Aber sie ist Gegenstand von Getratsche und despektierlicher Besprechung. Zu einer sozialen Annäherung mit ihr kommt es nie.

Dass das in der politischen Vergangenheit der Nachbarn womöglich so wichtige Ideal einer ‹befreienden Toleranz›, die frei sein muss von ihr wesenhaft widersprechenden repressiven Effekten, in eine so ambivalente Haltung zwischen Anziehung und Abstossung einmündet – die ihrerseits Züge einer «repressiven Toleranz» nach Marcuse trägt –, ist ein unterschwelliger politischer Subtext, der den Film durchzieht.4 Er thematisiert diesen Tiefentext aber nur augenzwinkernd und ironisch, ohne je polemisch zu werden. Ihm geht es um andere Dinge, die das romantische Geheimnis der Figur der alten Frau auszuhorchen sucht.

Geheimnis, Faszination und Apotheose

Manches ist getragen gerade nicht von der absonderlichen Erscheinung, die manchen an die Erscheinungsweise von Vogelscheuchen erinnern mag, sondern von der Lebendigkeit des so aussergewöhnlichen Gesichts, das aus den Lumpen und vom Zufall komponierten Kleidungsstücken herausschaut: eines jener alten Gesichter, die zum Verweilen einladen und die sich gegen den schnellen Eindruck von Attraktivität verwehren. Dieses Gesicht ist es, das Miss Shepherd selbst gegen eine allzu kurzschlüssige soziale Typage immunisiert. The Lady in the Van ist durchzogen und getragen von einer tiefen Faszination für das Gesicht der 82-jährigen Maggie Smith. Zahllose Nah- und Grossaufnahmen verweilen auf ihm, über die 15 Jahre hinweg, von denen die Geschichte erzählt. Und sie verzeichnen die wachen Augen, die einen aus den Falten anspringen, wenn die alte Frau sich verärgert fühlt, wenn sie sich zur Wehr setzt oder wenn sie kokettiert.

Miss Shepherd ist sicherlich Figur gewordene Inkarnation einer Problemzone, an die die bürgerliche Bevölkerung anstösst, sobald sich einer eindrängt, der anderen Programmen und Idealen des Alltagslebens folgt als die ‹Normalen›. Öffentliche Ordnung könnte nicht entstehen und stabil bleiben, ohne dass sie das Normale vom Absonderlichen, das Übliche vom Anderen schiede. Die Zone lebt und zeigt sich in kurzfristigen Störungen (und ihren Beseitigungen), in Provokationen (und ihrer kommunikativen Verarbeitung), in längeren Differenzen der Lebens- und Verhaltensstile (und der sozialen Isolation, Ausweisung oder sogar Ghettoisierung derjenigen, die nicht unter dem Rubrum des Normalen versammelt werden können). Die dramatischen Potenziale dieser latenten oder manifesten Konfliktlinie liegen offen dar. Man kann die Normalität feiern (und die Abweichung verdammen), das Divergente romantisieren (weil es eine eigene allgemeine oder private Vorgeschichte hat und eigenen Respekt verdient) oder dramatisieren (weil es die Repressivität und sogar Gewaltbereitschaft der Normalen entlarvt) – es lassen sich schnell Beispiele (oder sogar ganze Subgenres wie die Antihelden-Filme) finden, die den dramatischen Umgang mit der ‹Zone› demonstrieren.

Doch The Lady in the Van betreibt ein eigenes Programm, die Zone selbst zu durchlöchern – mit der Vorgeschichte der Aussenseiterfigur, mit ihrer so wachen Körperlichkeit und der Nichtaggressivität ihres Verhaltens, mit dem liebevollen Umzirkeln einer sozialen und vor allem ästhetischen Sensibilität, die unter dem äusseren Erscheinungsbild schnell verschüttet werden könnte. Und auch mit dem besonderen Sozio-Politotop, in dem die Geschichte angesiedelt ist.

Insbesondere die Fähigkeit der Protagonistin zur Präsenz des Erlebens berührt, sie geht einher mit erotischer Aufladung des Spiels wie auch der Kunst. Dass die alte Frau diese Sensibilität mit einem Schuldkomplex, mit Angst, vergangenen Repressionen und Bestrafungen erkaufen musste, dass die ekstatische Religiösität wie eine Kompensation vergangenen Leidens erscheint, signalisiert auch die Leistung des kleinbürgerlich-spiesserartigen Lebens: weil dessen Ordnungen das Subjekt schützen gegen den äusseren Konflikt ebenso wie gegen die inneren Verunsicherungen der Identität. Und es aber auch rigoros abschirmen gegen die tiefen Affekte der Angst, der kindlichen Bewegungslust, der völligen ästhetischen und religiösen Hingabe.

Der Voice-over-Erzähler hatte aus dem Blick des Schriftstellers nur berichtet und kommentiert, was er sah. Spätestens sein Eingriff in den Repräsentationsmodus des Films selbst – er will Miss Shepherd den Abgang verschaffen, den sie verdient, und schon öffnet sich der Himmel – zeigt aber, dass seine Macht viel grösser ist, als dass er nur der Registrator des Geschehens gewesen wäre: Er hat die Geschichte als parabolisches Spiel erzählt, dessen tieferer Sinn ihm selbst durchaus unklar geblieben war. Die Position des Zuschauers, der bis dahin verwundert zusehen konnte, wie die alte Frau lebte und agierte, verändert sich just in dieser Szene, in der sich erzählerische Fabulierlust mit der Unfähigkeit verbündet, den Tod der Alten realistisch zu verarbeiten: Der Zuschauer wird sich gewiss, dass er einer Allegorie beiwohnt. Einer Allegorie mit offenem Zweit- oder Tiefensinn, den zu gewinnen ihm selbst überlassen bleibt.

Wenn ‹öffentliche Ordnung› ein Synonym des ‹gelungenen Alltags› ist, wird schnell klar, dass er, der Alltag, nicht positiv bestimmt ist, sondern ein Schwebezustand einer Praxis ist, die auf stillschweigender Grundlage ruht. Seine Kontur gewinnt der Alltag erst, wenn er gestört wird. Man könne nur vom Nichtalltag erzählen, hat Karl Markus Michel einmal notiert,5 nominiert damit nicht nur den alltagspraktischen Umgang mit der Störung, sondern vor allem das Erzählen als Strategie, sich über die Geltungsdinge des Alltags zu verständigen. The Lady in the Van tut dies in höchst ironischer Weise, bleibt der Abweichlerin in tiefer Sympathie verbunden, ob ihrer Ich-Stärke und der Konsequenz, mit der sie lebensgeschichtlich Zustossendes in eine Lebensform umgemünzt hat, die sich des Beifalls der Anderen nicht mehr versichert und sie sogar mit der Bewunderung der umstehenden Bürgerlichen untersetzt. Eine Ironie, die sich ihrer selbst bewusst und gewiss ist: Bennett, der reale Schriftsteller, tritt am Ende des Films selbst auf, als die Nachbarn mit grosser Pressebegleitung eine Ehrentafel für Mary Shepherd in jener Einfahrt anbringen, in der ihr Lieferwagen für anderthalb Jahrzehnte gestanden hatte – in Blau, nicht in Gelb!

Die juristischen Beschreibungen fassen die ‹öffentliche Ordnung› als Set von Regeln, denen das Verhalten jedes Einzelnen unterworfen ist: «Unter öffentlicher Ordnung verstand schon 1933 das Preussische Oberverwaltungsgericht die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, soweit die Beachtung dieser Regeln nach den herrschenden Auffassungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten Gemeinschaftslebens betrachtet wird. Das Bundesverfassungsgericht versteht unter öffentlicher Ordnung die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten mensch­lichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird.» (Wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Ö..., zuletzt besucht am 7. 10. 2016).

Die tragikomische Geschichte des Films basiert nicht nur auf Alan Bennetts langjährigen Begegnungen mit einer realen Miss Shepherd, sondern auf dem gleichnamigen Theaterstück, das er darüber konzipierte; er schrieb auch das Drehbuch für die Filmversion.

Ich habe im Kontext einer Skizze der kulturellen Motive am Beispiel der Roma auf diese Funktionen des ‹Anderen› als Gegenentwurf zu den Selbstwahrnehmungen der bürgerlichen Normalität hingewiesen; vgl. Hans J. Wulff: «Konzepte des Motivs und der Motivforschung in der Filmwissenschaft», in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung, 3, 2011, S. 5–23, http://www.rabbiteye.de/2011/3/w... Leicht veränd. auch in: Christine N. Brinckmann/Britta Hartmann/Ludger Kaczmarek (Hg.), Motive des Films: Ein kasuistischer Fischzug, Marburg 2011, S. 13–32, bes. S. 14 ff., 29.

Ich beziehe mich insbesondere auf Herbert Marcuses heute fast vergessene Kritik der «repressiven Toleranz» (Herbert Marcuse, «Repressive Toleranz», in: Robert Wolff/Barrington Moore/Herbert Marcuse (Hg.), Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt 1966, S. 93–128), deren Gewalttätigkeit aus dem zynischen Argument heraus begründet werde, dass es dieser Gewalt bedürfe, um den erreichten Grad der Toleranz zu verteidigen. Aber tatsächlich sind es in seiner Interpretation die Mächtigen und Meinungsmacher der Industriegesellschaften, die das Argument für sich reklamieren, um die Toleranzgesellschaft gegen Aufrüstung, Chauvinismus und rassistische Diskriminierung zu schützen, die aber aus der illegitimen Vorteilsnahme aus einer für alle behaupteten Toleranz tatsächlich das eigene Interesse nach ökonomischem Gewinn und Erweiterung oder Erhaltung von Macht verfolgten.

Es heisst bei Michel: «Vom Alltag kann man nicht erzählen. Aber ohne Alltag gäbe es gar nichts zu erzählen. Es ist der Normalzustand, von dem sich das (erzählenswerte, erzählbare) Außergewöhnliche abhebt wie das Besondere vom Allgemeinen.» (Karl Markus Michel, «Unser Alltag: Nachruf zu Lebzeiten», in: Kursbuch, 41, 1975, S. 1–40, hier S. 3). Vgl. dazu auch meine auf Michels These fussenden Überlegungen zur Gewalt-Darstellung im Film: Hans J. Wulff, Die Erzählung der Gewalt: Untersuchungen zu den Konventionen der Darstellung gewalttätiger Interak­tion, Münster 1985 (Studien zur Populärkultur, Bd. 1), bes. S. 9ff.

Hans J. Wulff
Professor für Medienwissenschaft an der Universität Kiel. Zahl­reiche Veröffentlichungen zur Film- und Fernsehtheorie und zur Populär­kultur. Autor von Psychiatrie im Film (1995), Darstellen und Mitteilen (1999), u.a. Mitherausgeber von Montage/AV. Lebt und arbeitet in Kiel und Western­kappeln.
(Stand: 2018)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]