DOMINIC SCHMID

EUROPE, SHE LOVES (JAN GASSMANN)

SELECTION CINEMA

Europa, fast schon mythisches Projekt, immer wieder infrage gestellt durch unkontrollierbare Mechanismen von Politik, Ökonomie sowie durch das allgemeine, unstete Wesen der Dinge: Europa in einem einzigen Film wenn auch nicht erklären, dann doch zumindest abbilden zu wollen, ist im Grunde ein von vornherein zum Scheitern verurteiltes Projekt. Und doch vermag es Jan Gassmann mit seinem etwas grössenwahnsinnigen und auch formal gewagten Projekt, dank einer überraschenden und fruchtbaren Metapher einen genauen und intimen Eindruck der momentanen psychischen Verfasstheit unseres Kontinents auf die Leinwand zu bringen. Er eröffnet einen nahezu ungefilterten Einblick in den von Sex, Drogen, Beziehungsproblemen und Arbeitslosigkeit ge­prägten Alltag von vier Paaren aus den Eckpunkten Europas – Dublin, Thessaloniki, Sevilla und Tallinn –, der hier repräsentativ für die Sorgen und Probleme, aber auch Möglichkeiten des grossen anderen, politischen Partnerschaftsprojekts steht.

Europa, so viel wird schnell klar, ist eine Frau. Sie heisst Caro, Siobhan, Veronika und Penny. Letztere lernt Italienisch, weil es in Genua noch Jobs geben soll, anders als im von Krisen und Sparmassnahmen geplagten Griechenland, muss dabei aber schwierige Entscheidungen bezüglich ihrer Beziehung zu Niko treffen. Die Trennlinien zwischen dem Politischen, dem Ökonomischen und dem Privaten verschwimmen im postkoitalen Gespräch über die fragliche Existenz einer gemeinsamen Zukunft. Siobhan würde diese gerne mit Terry teilen, muss aber zusehen, wie sie von Apathie und Heroin weggefressen wird, muss aufpassen, nicht selbst in den zerstörerischen Sog zu geraten, geniesst traurig-resignativ, den Kampf eigentlich schon aufgegeben, das letzte bisschen Wärme der Zweisamkeit mit ihrem Freund. Ve­ronika versucht ihre kleine Patchwork-Familie mit Go-go-Tanz über Wasser zu halten und hat sich wahrscheinlich schon besser mit der Situation abgefunden als Harri, der Vater des jüngeren Kindes. Man schleppt sich voran, man muss da durch, selbst wenn am Ende vielleicht nichts Besseres wartet. Wenn es jemandem gelingen kann, dann den Frauen, denn von den Männern scheint ob der anhaltenden Krise nicht viel mehr zu erwarten zu sein als flüchtige Momente von Wärme und Ekstase – die we­nigen Fluchtmöglichkeiten, die noch bleiben.

Gassmann und seinem Kameramann Ra­mòn Giger gelingt das Kunststück, trotz der extremen Nähe zu seinen Protagonisten nie aufdringlich zu wirken. Selbst die vielen expliziten Sexszenen lassen den Film nichts ins Voyeuristische kippen, sondern vermögen es vielmehr, uns an kleinen Momenten fremden, aber vielleicht doch gar nicht so fremden Glücks teilhaben. In diesen Momenten verschwinden auch mal die Sorgen und Nöte – des grossen Europas und der Individuen, die dieses ausmachen – in einem sanft pulsierenden Hintergrundrauschen.

Dominic Schmid
*1983. Studium der Filmwissenschaft, Japanologie, Politikwissenschaft und Philosophie in Lausanne, Zürich und Berlin. Dazu Kinooperateur und Videothekar. 2003–2009 Vorstandsmitglied und Präsidium der Filmgilde Biel. 2013–2015 Mitglied der CINEMA Redaktion. Filmkritiken für Filmbulletin, Filmexplorer und die CINEMA Séléction.
(Stand: 2020)
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