MARIAN PETRAITIS

THE OTHER HALF OF THE SKY (PATRIK SOERGEL)

SELECTION CINEMA

Vier schillernde Persönlichkeiten stehen im Mittelpunkt von Patrik Soergels Dokumentarfilm The Other Half of the Sky. Dass es sich bei diesen vier Frauen um einige der mächtigsten Unternehmerinnen des heutigen Chinas handelt, führt der Film gleich zu Beginn eindrucksvoll vor: In ihren abgedunkelten Limousinen scheinen die Protagonistinnen durch das Verkehrschaos der Grossstadt hindurch zu «schwe­ben», gleichsam überhöht und der Gesellschaft entrückt. Ihre Lebensgeschichten strukturieren fortan den Film, erzählen von der Härte des kapitalistischen Marktes und von den Aufstiegsmöglichkeiten – ermöglicht durch den chinesischen Wirtschaftsboom. Zhang Lang, Besitzerin einer gehobenen Restaurantkette, erzählt von ihrer Zeit in Kanada, wo sie für einen Niedriglohn gleich drei oder vier Jobs annahm, um später mit dem gesparten Geld in China ihr erstes Restaurant eröffnen zu können. Fernsehmoderatorin Yang Lang schildert das brutale Auswahlverfahren für den Staatssender CCTV, an dessen Ende sie dank ihrer Beharrlichkeit als Einzige übrig blieb, von ihrem Studium an der Columbia University in den USA und von ihrem Kampf um internationale Fernsehformate, die sich vornehmlich an Frauen richten sollen. Und Dong Mingzhu, Vorstandsmitglied des Grosskonzerns Gree Electric, hält mit kompromissloser Härte fest, sie habe sich eben entscheiden müssen zwischen Familie und Karriere, beides zusammen sei nicht möglich.

Den sprachlichen Reflexionen der Frauen stellt The Other Half of the Sky staunener­regende Bilder der vom Kapitalismus entfesselten chinesischen Metropolen gegenüber. Neben surrealen Nachtaufnahmen der grell beleuchteten Geschäftsmeilen und Luftaufnahmen mit flackernden Lichtern der Auto­lawinen fängt der Film auch Bilder eines ursprünglichen und oft verarmten Chinas ein, das sich an den Konzernfassaden bricht.

Ähnlich wie die erratischen Hochhäuser mit ihren blinkenden Neonbannern bleiben die Geschichten der vier Frauen oft an der von ihnen kontrollierten Oberfläche. Nur selten gewähren die Frauen Einblicke in ihre Gefühlswelten oder äussern Kritik am System, dann allerdings öffnen sich Abgründe. So erzählt Zhou Yi, Vorsitzende der chinesischen Niederlassung von IBM, von den dramatischen Auswirkungen der Kulturrevolution, die sie als Kind miterlebte. In einer bewegenden Szene schildert sie, wie ihr intellektueller Vater als Querdenker verhaftet und jahrelang im Arbeitslager misshandelt wurde. Beim Wiedersehen begegnete sie einem gebrochenen Mann, der um Jahrzehnte gealtert schien und den sie kaum wiederkannte.

Patrik Soergels Film trägt den gleichen Titel wie Shirley MacLaines und Claudias Weills Dokumentarfilm aus dem Jahr 1975, der eine Annäherung an das China der Siebzigerjahre versuchte. Als indirekte Fortsetzung gelingt ihm ein faszinierender Film, eine Hommage an seine vier Protagonistinnen, die den Blick auf ein Land voller Widersprüche und Chancen freigibt.

Marian Petraitis
*1987, studierte Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft in Bonn und Filmwissenschaft im Rahmen des Netzwerk Cinema CH in Zürich und Lausanne. Arbeit als freier Filmkritiker, zahlreiche redaktionelle Praktika, darunter bei filmportal.de, Projekt des Deutschen Filminstituts und epd Film. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich mit einem Dissertationsprojekt zu historiographischen Praktiken des Alltags im gegenwärtigen Dokumentarfilm. Seit 2014 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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