MONIQUE SCHWITTER

DIE KRÖNUNG

ESSAY

Ein nackter Mann mit einer Crown, einer, wie soll ich sagen, raumgreifenden Verkappung, einer kopfumspannenden Brille mit integriertem dreidimensionalen Bildschirm und stereofonischen Lautsprechern zum Schauen, ach was, Erleben von Virtual-Reality-Filmen, vollführt eine Art Tanz. Rhythmisch bewegt er sich vor- und rückwärts, mehr torkelnd als gehend, die Arme erhoben: Seine Hände streicheln die Luft.

Er befindet sich im Wohnzimmer seiner achtzigjährigen Mutter, die ein Stockwerk tiefer in der riesigen Küche ihrer Alters-WG mit den elf anderen Menschen im besten Alter (zwischen 75 und 100) beim Mittagessen sitzt. Das dauert jeden Tag ziemlich genau eine Stunde, solange hat der Nackte, und darauf zählt er, Ruhe.

Wir schreiben das Jahr 2051. Der Held der Geschichte, ein achtjähriger, verstummter Junge, betritt den Raum. Keiner weiss, wieso er nicht mehr spricht, er selber auch nicht. Sein Name ist Falco, und er ist der Sohn des nackten Tänzers.

Mein blöder Vater, denkt Falco, wenn er an ihn denkt, und meine komische Mutter, wenn es um die Frau geht, die ihn zur Welt gebracht und aufgezogen hat und bei der er wohnt. Seine Eltern waren nie ein Paar. Jedes zweite Wochenende verbringt Falco bei seinem blöden Vater und muss dafür drei Stunden Zug fahren (respektive sechs). Der Vater hat keinen Platz in seiner ungeputzten Einraumwohnung, daher verbringen sie die gemeinsamen Wochenenden bei seiner Mutter, Falcos Grossmutter, die der Enkel meine kleine Omi nennt, auch wenn sie – noch – fast einen Kopf grösser ist als er. Falco schreckt zurück. Sein blöder Vater hat ihn weder gehört noch gesehen. Wie auch. Er tanzt. Von seinem Gesicht ist nichts zu sehen, nur der ungepflegte Vollbart wuchert unter der Crown hervor, dunkel und üppig wie die Behaarung seines ganzen Körpers: Die hügelige Brust, der dicke, pralle Bauch, die massigen Arme und Schenkel, der fleischige Rücken und ja, sogar der mächtige Hintern sind über und über mit dichten, kräftigen Haaren bewachsen. Nur sein steifer Schwanz blitzt schneeweiss und steil aus dieser ganzen Dunkelheit hervor und schreibt, so scheint es, in zuckender Schnörkelschrift Worte und Sätze in die Luft.

Die kleine Omi hat Falco den Schlüssel geschickt, nach seinem letzten Besuch, für alle Fälle, hat sie dazugeschrieben, und Falcos komische Mutter gab ihm einen Kuss und sagte, mein Grosser. Heute setzte seine Mutter ihn zwei Stunden früher in den Zug als sonst, weil sie mit den beiden Kleinen zum Kinderarzt musste, nachdem ihre Köpfe beim Rutschen so unglücklich zusammengeprallt waren, dass beide bluteten.

Falco steht starr und kneift die Augen zusammen, aber es hilft nichts, er sieht, was er sieht, seinen nackten blöden Vater mit Crown, tanzend und torkelnd, und dessen schreibenden Schwanz, und er liest, ob er will oder nicht, gebannt mit und hört dabei die Stimme dieser schrecklichen Frau mit den geschwollenen Lippen, die ihn seit Monaten verfolgt: Ich saug dich aus, du!

Falco hat zwei jüngere Brüder, einer ist eine Weltsensation, der jüngste, er hat ein Downsyndrom. Die sind ja ausgestorben. Als Nächstes bringt sie einen Archaeopteryx zur Welt, sagte Falco einmal, als er noch sprach, und denkt es seitdem öfter. Auch wenn er weiss, dass der Bauch der Mutter leer bleiben wird, sie habe sich, sagt sie, und Falco kann es inwendig schon auswendig, drei Söhne gewünscht und drei Söhne bekommen, nun sei es gut, sie fühle sich reich beschenkt, gerade auch durch den jüngsten. Falco findet den Downie zwar manchmal fast unheimlich, aber das dürfte er nicht sagen (wenn er denn spräche), und dass er sich ein Geschenk eigentlich anders vorstellt, auch nicht.

Zwei Stunden früher als sonst, und schon tanzt sein blöder Vater nackt durch das Wohnzimmer der kleinen Omi. Dass sein Vater diese Crown aufhat, ist ja nichts Neues, er schaut dauernd Filme. Fussball, sagt er immer, bevor er sich die umfangreiche Vorkehrung auf den Kopf setzt. Anfangs, als die Wochenendbesuche begannen, wollte sein blöder Vater mit ihm ständig Fussball schauen. Aber Falco interessiert sich nicht für Fussball und auch nicht für seinen Vater. Er interessiert sich für Berge und für den Mars. Für den höchsten Berg des Sonnensystems, genau genommen, den Olympus Mons. Fürs Woanders. Für dünne Luft. Fürs Weitwegsein.

Der blöde Vater weiss nicht, dass sein Sohn weiss, was für Filme er schaut. Einmal hat Falco sich das auch angesehen. Er schrie, aber es kam kein Laut heraus. Er kann sehr genau beschreiben, was er sah (er könnte, würde er reden). Nur wie er die Frau mit den geschwollenen Lippen wieder loswird, weiss er nicht. Nimm du sie, würde er seinem Vater gerne vorschlagen, aber würde der das verstehen?

Der Mars ist 225 Millionen Kilometer von der Erde entfernt. Die NASA erklärte im Jahr 2017, sie gehe davon aus, spätestens 2030 Menschen auf den Mars zu schicken. Das weiss Falco von seinem Vater. 2017 war sein Vater so alt, wie Falco jetzt ist: acht. Damals interessierte sich sein blöder Vater anscheinend auch für den Mars. Sooft er sich das klarmacht, läuft es Falco heiss über den Rücken. Wenn sein Vater mit acht so war wie er, wird er dann mit 41 so sein wie sein Vater? Er schüttelt sich. Wird er auch dauernd mit so einer Crown rumrennen und angeblich Fussball, in Wirklichkeit aber Pornos schauen? Das Wort Porno hat Falco von der kleinen Omi gelernt.

Falcos Brüder heissen Havik und Dyami. Ihre komische Mutter hat die Namen ausgesucht. Havik ist niederländisch für Habicht und Dyami angeblich indianisch für Adler. Der Downie heisst Dyami. Falco würde seinen Namen gerne mit Dyami tauschen, und da der Kleine ebenso wenig spricht wie er, wenn auch aus anderen Gründen, ist Falco überzeugt, es würde ihm gar nichts ausmachen.

Falke, Adler, und dazwischen der Habicht. Ganz schön viele Vögel. Falco schliesst kurz die Augen, holt tief Luft und lächelt in sich hinein. Jedenfalls könnte er einen Flugsaurier gut brauchen, das wäre mal ein Geschenk, einen, der mit Laserschub flöge und ihn in akzeptabler Zeit zum Olympus Mons brächte. Er hat sich ausgerechnet, dass drei Wochen für ihn okay wären. Drei Stunden wären ihm lieber, klar, und drei Stunden sind lang, wie er von den Fahrten zu seinem blöden Vater weiss, lang, aber zu schaffen, auch wenn es sich unterwegs oft nicht danach anfühlt.

Nun ist er da, und sein Vater tanzt. Aber wieso denn nackt? Er öffnet die Augen und sieht ihm zu. Es ist ganz still im Zimmer, der Vater tanzt lautlos über den dicken grünen Teppich der kleinen Omi, aber Falco hört die Stimme der Dicklippigen, sie dröhnt ihm in den Ohren: Du Tier! Hast du immer noch nicht genug? Neun Monate ist es her, sein blöder Vater schlief noch, als Falco sich die Crown aufsetzte und seinen Augen nicht traute. Die Vorkehrung war ihm viel zu gross, er musste sie mit beiden Händen festhalten und fühlte sich komplett gefangen. Er schien ganz plötzlich im Körper eines toten Erwachsenen zu stecken. Schlaff lag er auf dem Rücken und rührte sich nicht, und eine nackte Frau kam auf ihn zu, immer näher, sie verzog ihre dicken Lippen zu einem grausamen Lächeln, du entkommst mir nicht, flüsterte sie, ich saug dich aus, du, er wollte sie abschütteln, aber sein erwachsener Körper führte ein Eigenleben. Die Frau kniete auf dem Boden und öffnete ihren Mund, ohne zu sprechen, und irgendwann setzte sie sich auf ihn; plötzlich hatte er riesige Männerhände, die die Frau zurückstiessen und sie dann, als sie sich wieder näherte, an den Brüsten packte, worauf die Frau schrecklich lachte. Seine fremden Hände liessen die längste Zeit nicht von den Brüsten dieser Frau ab, packten schüttelten, kneteten sie grob, und mit einem Mal hatte er einen grossen harten Penis, viel grösser als der seines Vaters, und der ragte steil in die Luft, und damit begann er, auf die Frau einzustechen, und sie feuerte ihn an, na komm, schrie sie immer wieder, na komm! Sie sah ihn wild an, er wollte die Augen schliessen, vergeblich; er schrie, bekam jedoch keinen Laut heraus, schrie aus Leibeskräften und blieb stumm. Unerträglich heiss war es unter dieser Kopfbedeckung. Er stand wie erstarrt.

Schliesslich gehorchten ihm wenigstens die Hände wieder, er riss sich die Crown vom Kopf und schleuderte sie weg, sein Gesicht glühte. Er lauschte. Von der kleinen Omi war nichts zu hören, auch keine Orgelmusik, die sie doch morgens nach dem Aufwachen immer hörte. Er öffnete vorsichtig ihre Tür und spähte hinein. Komm nur, sagte seine kleine Omi vom Bett aus, komm nur, mein Grosser, und er schob sich in ihr Zimmer hinein und setzte sich mit heissem Kopf und kaltem Körper auf ihre Bettkante, fröstelnd, und sprach kein Wort. Nie wieder. Dein Vater schläft noch, ja?, fragte die kleine Omi und stupste leicht seine Hand an. Mein blöder Vater, dachte Falco und nickte, dein blöder Sohn. Die Omi schaltete die Musik ein. BWV 1128, murmelte die kleine Omi, Wo Gott der Herr nicht bei uns hält.

Wegen der sehr dünnen Atmosphäre schwanken die Temperaturen auf dem Mars im Tagesverlauf nicht selten um 100° C. Im Sommer kann es bis zu 17° C warm werden, durchschnittlich liegen die Temperaturen aber bei minus 33° C. Im Winter ist es an den Polkappen so kalt, dass das Kohlendioxid gefriert. Abhängig vom Jahreszeitenzyklus entstehen durch starke Luftdruckschwankungen gewaltige Stürme, und die Planetenoberfläche der südlichen Halbkugel verdunkelt sich für Wochen oder gar für Monate.

Falcos blöder Vater ist stehengeblieben. Er nimmt die Crown ab. Er ist total verschwitzt. Er sieht Falco entgeistert an. Er wirft die Crown hinters Sofa. Ich habe dich erst später erwartet, sagt sein blöder Vater nach einer Weile. Er zieht sich eine Hose an. Er holt sich ein Handtuch und trocknet sich das Gesicht, den fast kahlen Schädel, die dichtbehaarte Brust ab. Er setzt sich aufs Sofa. Falco hält noch immer den Schlüssel in der Hand. Auf die Aufforderung seines blöden Vaters, sich neben ihn zu setzen, reagiert er wie ferngesteuert. Sie sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Der Bauch des Vaters ist wirklich sehr dick. Falco sieht nicht hin. Der blöde Vater umso mehr, er betrachtet, so scheint es, jedes einzelne Haar auf seinem Wanst.

Niemand war je auf dem Mars. Kein Hund, kein Affe, kein Downie. Seit zwanzig Jahren sollten, ginge es nach der NASA, Menschen zum Mars fliegen. Und was ist geschehen? Nichts! Noch immer scheitert es daran, dass es keine vernünftigen Raumschiffe gibt. Die sind einfach zu langsam. Hin und zurück wäre man mindestens ein Jahr unterwegs. Falco überlegt kurz. Er hat, wie jeder seines Jahrgangs, eine Lebenserwartung von 102. Zeit genug eigentlich. Auch wenn er bisher von drei Wochen pro Strecke ausging. Ein einziges Jahr. Eins von 102. Falco atmet tief ein und spürt, wie leicht er wird. Von ihm aus könnte es sofort losgehen. Er nickt unwillkürlich. Er denkt kurz an seine komische Mutter und an seine beiden Brüdervögel. Havik würde sich um seine Mutter kümmern. Er nickt erneut. Und Dyami könnte ihn begleiten.

Es fühlt sich gut an, einen Bruder wie ihn zu haben. Wenn Dyami ihn küsst, weiss Falco, dass der Downie gekitzelt werden will. Falco formt dann die Finger zu Krallen und lächelt hinterhältig wie der heimtückische Wolf aus Omis Bergwelten: Die Karpaten-Buch. Er täuscht einen Angriff an. Er zögert. Dyami küsst ihn erneut. Falco kitzelt Dyami. Dyami lacht. Dyami hat das weltbeste Lachen, findet Falco. Er lässt von ihm ab. Dyami kichert und umarmt ihn. Wenn wir gross sind, überlegt Falco manchmal, küsst er mich dann immer noch? Muss er dann immer noch so lachen, wenn ich ihn kitzle? Dyami küsst ihn. Seine Küsse sind nass. Falco kitzelt ihn mit schnellen Fingern und hartem Anschlag. Dyami lacht furchtbar und wirft sich auf Falco. Dyami liebt es, Falco zu schlagen, er liebt es, auf dem grossen Bruder zu sitzen, als Sieger, und seine Muskeln zu zeigen. Dyami ist vier Jahre alt, aber er ist stark, unheimlich stark sogar. Falco wirft den Kleinen ab und wischt sich dessen Spucke von den Lippen. Falcos Herz lächelt. Es fühlt sich gut an, einen Downiebruder zu haben. Nicht nur, weil er eine Weltsensation und ausgestorben ist. Überhaupt.

Die kleine Omi kommt herein. Sie wird von Herrn Guddat begleitet. Herr Guddat ist einer ihrer elf Mitbewohner, und nicht nur das, wie Falco weiss. Manchmal übernachten Herr Guddat und die kleine Omi beieinander. Herr Guddat setzt sich zwischen Falco und seinen blöden Vater aufs Sofa. Tag, die Herren, sagt er. Er greift nach dem Bergwelten: Die Karpaten-Buch und schlägt es auf. Fein, sagt Falcos blöder Vater, dann verschwinde ich mal eben im Bad. Die kleine Omi murmelt etwas, das wie Popo oder Porno klingt, setzt sich auf seinen Platz und streicht Falco über den Kopf.

Monique Schwitter
In Zürich geboren. Nach der Matura studierte sie zunächst Germanistik und Geschichte in Zürich, dann Theaterregie und Schauspiel in Salzburg. Sie war bis 2010 an den Schauspielhäusern Zürich, Frankfurt, Graz und Ham­burg engagiert. Seit 2003 veröffentlicht sie Prosa und dramatische Texte. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schwei­zer Buchpreis 2015, dem Schweizer Li­teraturpreis 2016 und dem Anerkennungspreis der UBS Stiftung 2017.
(Stand: 2019)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]