THOMAS HUNZIKER

FACING MECCA (JAN-ERIC MACK)

SELECTION CINEMA

Der fiktive Ort Amrikon ist eine beliebige kleine Gemeinde in der Schweiz. Dort steht am Rand der Wohnsiedlungen eine leicht verlotterte Baracke, in der eine Familie aus Syrien untergebracht ist, die in der Schweiz einen Antrag auf Asyl gestellt hat. Vor der Baracke steht knapp ein Dutzend alter Kühlschränke, welche die fürsorglichen Bewohner der Gemeinde der fremden Familie zur Verfügung gestellt haben. Auch Roli (Peter Freiburghaus) lädt gerade seinen Kühlschrank ab, da erfährt er, dass die Frau des Asylbewerbers im Spital im Sterben liegt. Der Tod stellt die Familie, die Gemeinde und Roli vor ein unlösbares Problem. Der Syrer Fareed (Jay Abdo) möchte seine Frau in der Schweiz beerdigen lassen, wenn möglich innert 24 Stunden, und das Grab muss Richtung Mekka ausgerichtet sein. Doch der Gemeindevorsteher Künzli (Nicolas Rosat) erklärt Roli, dass jetzt erst einmal Wochenende sei.

Leben in der Fremde ist schon schwierig genug. Sterben ist noch viel problematischer, wie Regisseur Jan-Eric Mack, der in seinen Werken immer wieder aktuelle politische Themen und ihre Auswirkungen auf den Alltag aufnimmt, in seinem einfühlsamen Drama Facing Mecca zeigt. Hier treffen fremde Kulturen und Erwartungen aufeinander, wie das in einer Welt voller Krieg und Entwurzelung alltäglich geworden ist. Doch in Amrikon soll die Welt noch friedlich sein. Die Bürokratie sorgt dafür, dass selbst unerwartete Todesfälle nichts daran ändern. Ein diagonales Grab lässt sich zwar bewilligen, aber nach 25 Jahren muss es aufgehoben werden. Das kommt für den Mann aus Syrien nicht infrage, denn sonst kann er seiner Frau im Jenseits nicht mehr begegnen. Viel einfacher wäre es für die Gemeinde sowieso, wenn das Problem ausgeflogen würde.

Mack konzentriert sich in Facing Mecca voll auf seine beiden Hauptfiguren, die auf eine Lösung eines für sie unverständlichen Problems hinarbeiten und dabei versuchen, die ge­gensätzlichen Sichtweisen zu verstehen. Er setzt dabei auf eine nachdenkliche Inszenierung, die auch durch einige eindrucksvolle Bilder besticht. Wie schwierig die Kommunikation und wie gross das Machtgefälle manchmal sein können, zeigt Mack exemplarisch in einer meisterhaften Szene auf dem Gemeindeamt, wo Roli und Künzli durch eine Glasscheibe mit Gegensprechanlage getrennt voneinander sind. Flehend erklärt Roli das Dilemma der syrischen Familie. Dadurch lässt sich Künz­li derart verärgern, dass er vergisst, den Knopf des Mikrofons zu drücken. Roli kann daher kein Wort hören; verstehen würde er die Argumente von Künzli jedoch sowieso nicht. Die beiden Männer trennt in dieser Konfrontation mehr als nur eine Glasscheibe.

Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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