ROWENA RATHS

DOUBLE PEINE (LÉA POOL)

SELECTION CINEMA

Zwei Drittel aller Frauen, die weltweit im Gefängnis sitzen, sind Mütter. Fast drei Viertel von ihnen sind alleinerziehend. Die Bedürfnisse ihrer Kinder werden vom Justizsystem kaum beachtet. Double peine beschäftigt sich mit der doppelten Strafe, die Kinder erfahren, wenn ihre Mutter hinter Gitter gesperrt wird: Durch die Inhaftierung eines Elternteils verlieren sie ihre engste Bezugsperson und kommen unschuldig mit dem Justizsystem in Kontakt. Die schweizerisch-kanadische Regisseurin Léa Pool dokumentiert vier Stationen: Nepal, Kanada, Bolivien und die USA. Es kommen verschiedene Eltern und Sozialarbeiter zu Wort. Im Mittelpunkt stehen jedoch die unsichtbaren Opfer – die Kinder.

Pool lässt insgesamt sieben Forderungen einblenden, die von betroffenen Kindern verfasst worden sind, zum Beispiel: «Ich habe das Recht, mit meinen Eltern zu reden, sie zu sehen und sie zu berühren.» Durch diese Forderungen wird der Film zu einem Manifest für die Rechte von Kindern von Gefangenen. Eine bedeutende Rolle nehmen in allen vier Kapiteln unabhängige Organisationen ein, die für die Rechte dieser Kinder kämpfen. Dank der ‹Osborne Association› in New York wird Kindern beispielsweise ein Besuch im Gefängnis ermöglicht. Manche haben ihre Mütter sieben Jahre lang nicht gesehen. Dank der im Jahr 2000 gegründeten Organisation ‹Prisoners’ As­sistance› in Nepal ist es Kindern inhaftierter Eltern möglich, in einem Heim aufzuwachsen und die Schule zu besuchen.

Der Regisseurin gelingt es, die ambivalente Rolle, die das Gefängnis für diese Kinder einnimmt, eindrucksvoll aufzuzeigen: Die 14-jährige Alison aus Bolivien ist im Gefängnis aufgewachsen. Wegen eines neuen Gesetzes muss sie nun unter der Woche in einem Heim leben und darf lediglich am Wochenende ihre Mutter im Gefängnis besuchen. Das Gefängnis bezeichnet sie als ihr Zuhause, von dem sie die Justiz nun fernhält. Der 18-jährige Krishna Si aus Nepal ist in einem Kinderpflegeheim aufgewachsen, welches er dagegen als sein Zuhause bezeichnet. Zu seiner Mutter, die er regelmässig besuchen darf, hat er, nach eigenen Aussagen, keine emotionale Beziehung. Die neunjährige Karolyne-Joanny aus Kanada, die momentan bei ihrem Vater lebt, ist böse auf ihre Mutter, die wegen Diebstahls im Gefängnis sitzt. Sie beschimpft ihre Mutter bei jedem Telefongespräch. Gleichzeitig träumt sie von ihrer Entlassung.

Pool hat ihre grössten internationalen Erfolge mit Spielfilmen wie Emporte-moi (CH/FR/CA 1999) oder Lost and Delirious (CA 2001) gefeiert. Double peine ist nun ihr dritter Dokumentarfilm. Starke Frauenfiguren prägen ihr vielfältiges Filmschaffen. Auch ihr neuer Dokumentarfilm rückt Frauen und Mäd­chen ins Zentrum. Mit Double peine ist Pool ein gut recherchierter und gleichzeitig emotionaler und subtiler Film zu einem brisanten Thema, das bisher kaum Beachtung gefunden hat, gelungen.

Rowena Raths
*1988, Studium der Populären Kulturen und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. War als Filmkritikerin bei semestra.ch tätig. Masterarbeit zum Thema Charity Events, Zwi­schen Standortpolitik und Management der Emo­­tionen im Rahmen eines Nationalfonds­projekts über Eventkultur und Stadtentwicklung. Seit 2016 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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