MARIAN PETRAITIS

LA FUREUR DE VOIR (MANUEL VON STÜRLER)

SELECTION CINEMA

Nachdem Manuel von Stürler für seinen Erstling Hiver nomade (CH 2012) zwei Schäfer durch klirrende Kälte und verschneite Landschaften eines Schweizer Winters begleitete, lässt er mit La fureur de voir nun einen sehr persönlichen Film folgen, der ihn selbst in den Mittelpunkt stellt. Ausgangspunkt ist ein Arztbesuch, bei dem von Stürler massive Beeinträchtigungen bei der visuellen Wahrnehmung attestiert werden; eine verformte Retina sei für seine seit Kindheit auftretende Lichtempfindlichkeit verantwortlich, sein Sehfeld eingeschränkt und er ausserdem nicht in der Lage, Farben zu sehen. Eine mehr als erstaunliche Diagnose für von Stürler, der selbst nur die Lichtempfindlichkeit bestätigen kann. Und in der Tat: Weitere Test folgen und zum Erstaunen der Experten bestätigen die Ergebnisse das eigentlich Unmögliche: Er kann Farben sehen.

Was heisst es, zu sehen? Wie nehmen wir die Welt um uns herum wahr? Von seinem eigenen faszinierenden wie wendungsreichen Schicksal ausgehend, thematisiert von Stürler mit La fureur de voir die Möglichkeiten und Grenzen menschlicher Wahrnehmung, stösst darüber hinaus aber auch eine Reflexion über Film als Medium an, in dem diese Auseinandersetzung stattfindet. Dazu wählt er einen radikal subjektiven filmischen Zugang, indem er die Kamera über weite Strecken zur Vermittlung seines eigenen Blickes auf die Welt einsetzt, jedoch ohne sein eigenes Sehen für den Zuschauer simulieren zu wollen. Vielmehr stellt von Stürler seinen Blick als einen explizit filmischen, künstlerischen Blick aus. Wie schwierig es zu vermitteln ist, was wir von der Welt tatsächlich wahrnehmen, was durch Erinnerungen oder Imagination, letztlich also durch Bilder aus dem individuellen oder kollektiven Gedächtnis angereichert ist, das wird zur Kernfrage des zunehmend essayistischen Films.

Dieses Nachdenken über Film als visuelles Medium verschränkt sich jedoch immer wieder mit von Stürlers eigenem Schicksal und gibt La fureur de voir vor allem gegen Ende nochmals eine neue Wendung. Als von Stürler erfährt, dass sein Augenlicht in naher Zukunft zu erlöschen droht und er sich für oder gegen eine invasive Operation entscheiden muss, rückt die Auseinandersetzung mit der potenziellen Blindheit in den Mittelpunkt. Hier zeigt sich der Titel des Films dann auch als deutliche Kampfansage: Dem drohenden Verlust der verbliebenen Sehkraft setzt der Regisseur einen Film über die Lust am Sehen entgegen, der die menschliche Wahrnehmung ebenso ze­lebriert wie die visuelle Kraft des Films.

Jeder Mensch sieht die Welt unterschiedlich. Durch die Augen des anderen zu sehen, ist unmöglich. Das Medium Film aber, so insistiert von Stürler mit La fureur de voir, kann bei der Vermittlung der inneren und äusseren Welt, so wie wir sie wahrnehmen, helfen und ihr einen einzigartigen, künstlerischen Ausdruck verleihen.

Marian Petraitis
*1987, studierte Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft in Bonn und Filmwissenschaft im Rahmen des Netzwerk Cinema CH in Zürich und Lausanne. Arbeit als freier Filmkritiker, zahlreiche redaktionelle Praktika, darunter bei filmportal.de, Projekt des Deutschen Filminstituts und epd Film. Seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich mit einem Dissertationsprojekt zu historiographischen Praktiken des Alltags im gegenwärtigen Dokumentarfilm. Seit 2014 Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2019)
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