CORINNE GEERING

PLATZSPITZBABY (PIERRE MONNARD, SCHWEIZ 2020)

Die offene Drogenszene der 1990er-Jahre in Zürich prägte eine ganze Generation, blieb danach von Schweizer Kulturschaffenden jedoch lange unthematisiert. Nun liegt mit Platzspitzbaby der erste Spielfilm über diesen Teil der Schweizer Zeitgeschichte vor, der lose von der 2013 veröffentlichten, gleichnamigen Autobiographie von Michelle Halbheer inspiriert ist. Der Film ist Kindern suchtkranker Eltern gewidmet, die bei der öffentlichen Diskussion um Sucht, Polizeimassnahmen und Substitutionstherapie vergessen gingen. Im Zentrum von Platzspitzbaby steht die elfjährige Mia (Luna Mwezi), die in den 1990er-Jahren nach der Schliessung der offenen Drogenszene zusammen mit ihrer Mutter (Sarah Spale) in eine Mietwohnung zieht. Ihre Mutter konsumiert weiter Heroin und Mia wird in einen Strudel sozialer und emotionaler Verwahrlosung hineingezogen. Ihre Geschichte fügt sich in ein Umfeld ein, das einer klaren Ordnung unterliegt: sie schliesst Freundschaften mit Jugendlichen aus zerrütteten Familien, unter anderem der grossartig gespielten Lola (Anouk Petri), und in der Schule sitzt sie neben ihrer Antagonistin, der adretten Sophie. Trost findet sie immer wieder bei einem imaginären Musiker, mit dem sie über eine Reise auf die Malediven fantasiert, als Ausweg aus ihrer Situation. Insbesondere durch diese letzte Figur unterscheidet sich der Film deutlich von der Buchvorlage und auch Mia ist im Film eine fiktive Figur, die aus den Erfahrungen mehrerer Kinder zusammengesetzt ist. Diese Protagonistin ist vielschichtig gestaltet und durchlebt verschiedene Emotionen, wobei viele andere Figuren eher eindimensional bleiben.

Soziale Randständigkeit ist kein Thema, das im Schweizer Kino grosse Aufmerksamkeit geniesst, und es ist dem Film hoch anzurechnen, dass er Sucht thematisiert. Die Darstellung der 1990er-Jahre, die gegenwärtig gross im Trend sind, ist dabei allerdings nicht geglückt: verkrampft wird in einer Szene ein Gameboy eingebettet, Rapmusik als neuer Musikstil aufgegriffen und die Jugendsprache ist teilweise völlig verfehlt. Im Vergleich zu anderen filmischen Darstellungen von Heroinkonsum (z. B. Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, 1981, oder Trainspotting, 1996) wirken auch die Suchtbetroffenen ungewöhnlich bedrohlich und zombiehaft. Man erfährt so die Furcht von Mia auf plakative Art und Weise, wenn sie etwa unter einer Brücke in Zürich von einer dunklen Gestalt angefasst wird oder andere bei der Injektion von Heroin stört. Gleichzeitig widerspiegelt diese typenhafte Darstellung auch eine allgemeine Angst in der Bevölkerung und damit den Grund, warum die offene Drogenszene und ihre Nachwirkungen wohl so lange tabuisiert wurden. Der Film Platzspitzbaby ist deshalb trotz dramaturgischer Schwächen ein wichtiger Beitrag zur Vergegenwärtigung von Sucht in der Schweizer Öffentlichkeit.

 

Corinne Geering
*1987, dr. phil., studierte Philosophie (BA) und World Arts (MA) in Zürich, Bern und Prag. Promotion in Gießen. Lebt in Leipzig.
(Stand: 2021)
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