BENJAMIN EUGSTER / HEINRICH WEINGARTNER

«WE CAN’T REWIND, WE’VE GONE TOO FAR!» — ODER: R.I.P. CINEMA 1.0

ESSAY

Als 1979 das Musikvideo zu «Video Killed the Radio Star» als erster Beitrag des Musiksenders MTV über die Bildschirme flackerte, wurde ein Medienwandel eingeläutet, der sich seither kaum mehr zurückspulen lässt: Massenunterhaltung ist audiovisuell und erfolgt über private Geräte. So wurde dabei nicht nur die musikalische Konserve von der rein akustischen Aufzeichnung abgelöst. Damit wurde der Fernseher zur zentralen Instanz von etwas, das später als Multimedia bezeichnet und auf immer kleineren und mobileren Privatgeräten abgespielt wurde. Der Song stilisiert diesen Medienwandel zum unumkehrbaren Mord der klassischen Massenunterhaltung und schliesst daraus: «In my mind and in my car, we can’t rewind we’ve gone too far!» Dennoch hat sich auch rund 30 Jahre später nicht nur der Rundfunk, sondern auch das Kino als Mediennutzungsinstitution erhalten. In Anbetracht der Allgegenwart von audiovisuellen Unterhaltungsgeräten könnte dieser Umstand im besten Sinne als anachronistisch bezeichnet werden: Eine Gruppe von Menschen findet sich in einem grossen Raum zusammen, um sich gleichzeitig einem audiovisuellen Spektakel auszusetzen, das rein technisch auch ohne Weiteres in den eigenen vier Wänden oder unterwegs konsumiert werden könnte. Die Gründe dafür sind vielfältig und würden bei den meisten befragten Kinobesuchern/-innen mit einem «Es ist eben nicht das Gleiche» eingeleitet werden.

So selbstverständlich die Antwort bei einer gewissen Zuschauerschaft auch sein mag, wollen wir danach fragen, was denn eben nicht das Gleiche ist und in welchem Bezug dies zu den qualitativen Vorannahmen bezüglich der Unterscheidung von Kino- und Videokultur liegt. Unser Beitrag geht davon aus, dass Film- und Kinokultur heute in einem Spannungsverhältnis stehen zwischen einer nostalgischen Verherrlichung der Kinosituation vonseiten der Filmindustrie und Filmwissenschaft und der gleichzeitigen Allgegenwart audiovisueller Medien. Interaktive und partizipative Formate, die heute ausserhalb des privaten Raums stattfinden, deuten darauf hin, dass die Beschränkung auf «dunklen Saal, grosse Leinwand» eine breite visuelle Kultur in den Hintergrund drängt. Die multimediale Durchdringung des Alltags sowie der popkulturellen und künstlerischen Medienwelt ist zu weit fortgeschritten, um den Elefanten im Raum nicht anzusprechen, die vermeintlichen Erretter einer analogen Cinephilie beim Namen zu nennen und über ein zeitgemässes Verständnis von Cinephilie oder ein zeitgemässes Verständnis einer digitalen Videophilie nachzudenken.

Der Kampf gegen die Windmühlen der Digitalisierung

Das Kino ist längst digitalisiert – sowohl die Produktion als auch die Distribution und Vorführung von Kinofilmen erfolgt mittlerweile zu grossen Teilen rein digital.1 Dennoch ist die Qualitätsdiskussion auch im klassischen Kino geprägt von einer grundlegenden Skepsis gegenüber den digitalen Technologien. Gekoppelt an die Frage des analogen Filmmaterials hat sich ein elitärer Filmdiskurs herausgebildet, dessen konservative Haltung in unterschiedlicher Form zum Ausdruck kommt. Folgend möchten wir zwei konkrete Beispiele anführen.

Christopher Nolan und Quentin Tarantino sind die beiden grossen Don Quijotes der jüngeren Kinogeschichte. Beide setzen sich vehement für den Erhalt des analogen Films und der analogen Filmproduktion ein. Sie drehen weiterhin mit analogem Filmmaterial, Nolan vorzugsweise im 70mm-IMAX-Format. Quentin Tarantino: «If I can’t shoot on film, I’ll stop making movies.» Zu Christopher Nolan heisst es am selben Ort: «In interviews, Nolan has wasted no opportunity to proclaim the superiority of film over digital.»2 Nolan und Tarantino sind also kinematische Essenzialisten. Sie vertreten die These, dass dem Kino und der Kinosituation, wie wir sie kennen, eine bestimmte Essenz innewohnt und dass diese Essenz unter anderem in der analogen Beschaffenheit zu finden ist.

Dieses Beharren auf den formalen Aufnahmetechniken steht in einem deutlichen Zusammenhang mit dem Festhalten an bestimmten cineastischen Gestaltungsformen, die sich an einer fixierten Vorstellung der Kinosituation und einer einschränkenden Vorstellung von Filmkultur und Kultfilmen orientieren. Dieser Zusammenhang wirkt sich unserer Ansicht nach auf die filmischen Qualitäten ihrer jüngsten Werke aus. Ihre Argumentation lautet in etwa so: Weil das Kino und die Kinosituation einen analogen Ursprung besitzen, muss dieser analoge Ursprung erhalten bleiben, sonst verschwindet das Kino. Dieses Argument schliesst aus dem Ursprung des Kinos auf dessen Essenz und zieht vielfach auch jenseits eines banalen Konservatismus3 Schlüsse auf die menschliche Wahrnehmung4. Die Essenz von Kino ist eine rasche Abfolge von Bildern, woraus Bewegung entsteht. Und diese hätte auch anders entdeckt werden können. Film war einfach das historisch gerade zur Verfügung stehende Material. Zweitens – und das möchten wir an dieser Stelle etwas breiter ausführen – haben ihre Filme in den Augen vieler Zuschauerinnen und Zuschauer stetig an Qualität eingebüsst, gerade weil sie sich unermüdlich auf das analoge Ausgangsmaterial und die ursprüngliche Kinosituation fokussieren. Wir möchten diese beiden Umstände einerseits für das Festhalten an einer fixen Vorstellung der Kinosituation den ‹Nolan-Effekt› und andererseits für das Beharren eines einschränkenden Verständnisses von Filmkultur und Kultfilm den ‹Tarantino-Effekt› nennen.

Christopher Nolan vertritt die Ansicht, dass das Publikum seine im 70mm-IMAX-Format gedrehten Filme im Kino sehen muss, damit diese ihren vollen Effekt entfalten können. Und tatsächlich: Nolan-Filme verlieren auf einem Laptop ein Vielfaches ihrer Schlagkraft, bestimmte Objekte erkennt man nur mit Mühe.5 Christopher Nolan verlässt sich in der Konzeption seiner Filme auf die Kinosituation und die perfekte technische Beschaffenheit der jeweiligen Kinosäle. Da diese Bedingungen einer traditionellen Kinosituation in seinen Filmen bereits fest eingeschrieben sind, wollen wir darauf einen kritischen Blick werfen. Denn was geschieht, wenn diese Bedingungen auf einmal wegfallen? Wenn man seine Filme auf einem Laptop schaut, hört man bald nur noch fades Gedöns. Noch schlimmer: Es kommt zum Vorschein, dass die philosophischen und hochbedeutsamen Themen, die Nolan in seinen Filmen verhandeln möchte, an die bombastischen Technik-Spielereien geknüpft sind, die Nolan verwendet. Die visuelle Überhöhung in seinen Filmen löst sich auf einem kleineren Bildschirm in heisse Luft auf, sodass selbst das Pathos von Hans Zimmers Filmmusik im Hintergrund das wegfallende Spektakel nicht kompensieren kann. Dass Nolan in seinen Filmen fast ausschliesslich mit Hans Zimmer zusammenarbeitet, überrascht in dieser Hinsicht kaum, zumal Zimmer für seine kompositorisch extrem simplen Ideen und Motive bekannt ist, die, mit Reverb, Delay, Kompressoren und Schichtungen aufgebauscht, den gewünschten Effekt erreichen. Seine Filme ähneln darin Kirmes-Achterbahnfahrten, der Ritt ist spektakulär und nervenaufreibend, aber sehr schnell wieder vergessen. Bezeichnend dafür etwa der «Shepard Tone», der Nolan in The Dark Knight oder Dunkirk verwendet. Dabei wird durch die stetige Überlagerung von Frequenzen die Illusion erzeugt, ein Ton steigere sich ins Unendliche. Wenn man Spannung nicht über Bilder hinkriegt, behilft man sich eben solcher Taschenspielertricks.

Eine formale Eigenheit von Nolans Filmen ist zudem die inflationäre Verwendung der Handkamera. Nolan verwendet auch dann Verwackelungen, wenn das filmische Mittel keinem Zweck dient. Dies dient der oben erwähnten Kaschierung und Überhöhung der Inhalte von Nolans Filmen. Es muss aufregend und bedeutsam sein, weil es dank der Handkamera so aussieht. Und es dient ebenfalls der Kaschierung der mangelhaften bildkompositorischen Fähigkeiten von Nolan. Aus den Filmen von Christopher Nolan bleiben im Kopf nur wenige Bilder hängen, weil die aufbauschende Stilistik von Nolan alles gleichschaltet. Der Fokus auf die Kinosituation und das analoge Filmmaterial in der Bildgestaltung läuft dem zuwider, was seine Erstwerke ausgemacht hat: Substanz, Spannung, Stilwillen. Diese Umstände und Entwicklungen sind dasjenige, was wir als den ‹Nolan-Effekt› bezeichnen möchten.

Der ‹Tarantino-Effekt› weist demgegenüber eine abstraktere, aber noch viel hartnäckigere Form des filmischen Konservatismus auf. Quentin Tarantino drehte in seiner jüngsten Phase mit Django Unchained (US 2012) und The Hateful Eight (US 2015) typische Tarantino-Filme und wurde damit zum Opfer seines eigenen Erfolgs als Kultregisseur. Er orientierte sich nicht mehr an seinen eigenen Ideen, sondern daran, was Tarantino-Filme ausgemacht und schon immer funktioniert hatte.6 Tarantino wurde zu Tarantino ‹avant la lettre›. Quentin Tarantinos Hauptfähigkeit liegt darin, ein Sammelsurium an filmischen Strömungen, die gerade en vogue sind (die Nouvelle Vague, das asiatische Crime-Kino, Filme von Richard Linklater), zu kondensieren und zu etwas völlig Neuem zu verarbeiten. Wie bei Pulp Fiction oder Reservoir Dogs geschehen. Als seine eigenen Filme ‹en vogue› und immer kommerzieller wurden, hatte er gar keine andere Wahl, als sich selber zu kopieren.

Der Fokus auf das Analoge muss ebenfalls aus dieser Grundnatur heraus verstanden werden: Da Tarantino sich formal an der Vergangenheit orientierte und die Analogfixierung bis zum Äussersten trieb, konnte er sich inhaltlich nicht weiterentwickeln. Er ist quasi gefangen in einer stetigen Verwurstelung von Altem in Neues. Die naive Idealisierung von analogem Filmmaterial gehört leider auch dazu. Diesen Umstand bezeichnen wir als den ‹Tarantino-Effekt›.

Kino ist ein Gefühl

Der ‹Nolan-› und der ‹Tarantino-Effekt› sind beides Menetekel der sich in der Krise befindenden, althergebrachten Kinosituation. Der Fokus auf das Analoge im digitalen Zeitalter führt – entgegen dem gut gemeinten Vorhaben – zu einer Verflachung der kinematischen Qualitäten und ersetzt die Freiheiten eines experimentellen Mediums mit einem biederen Konservatismus. Das Perfide daran: Sowohl Christopher Nolan als auch Quentin Tarantino sind sich möglicherweise im Klaren darüber, dass das Kino, wie wir es kennen, keine Zukunft hat – oder sie verschliessen die Augen davor. Aber: Mittels der nostalgischen Zelebrierung von angeblich essenziellen Eigenschaften des Kinos – analoges 70mm-Filmmaterial; die guten alten Kinos; pfui, CGI – werden die Werbe- und Promomaschinen der jeweiligen Verleihe dieser Filme am Laufen gehalten. Das Analoge, Ursprüngliche, Essenzielle des Kinos ist zum leeren Vermarktungsfaktor geworden. Man muss es leider sagen, obwohl es als 1990er-Tarantino-Fan wehtut: Wo früher Tarantino aus finanziellen Beschränkungen Kreativität zog7, ver-tarantino-isiert er seine Filme heute aufgrund von finanziellem Überfluss.

Am anderen Ende des Spektrums möchten wir das Werk von David Fincher verorten. Er war einer der ersten Hollywoodregisseure, die komplett auf Digitalfilm umgestiegen sind, und Fincher verwendet häufig – oft sogar in Dialogszenen oder in rein analog drehbaren Sequenzen – CGI. Er hat verstanden, dass Kino wenig bis gar nichts mit analogen Beschaffenheiten oder der tradierten Kinosituation zu tun hat. Kino ist ein Gefühl.

Seven (US 1995) von David Fincher beispielsweise erzählt die Geschichte des Polizistenduos Mills (Brad Pitt) und Somerset (Morgan Freeman), das in einer namenlosen Grossstadt einem Serienmörder auf den Fersen ist, der nach den sieben Todsünden mordet. In diesem Neo-Noir sind sämtliche Einstellungen Teil eines Puzzles, das Stück für Stück auf die Schlussszene hinarbeitet. So, dass sich ganz bestimmt, auch wenn man den Film bereits gesehen hat, zum Schluss ein flaues Gefühl in der Magengegend einstellt. Der Tradition von Alfred Hitchchock8 folgend, fängt Fincher mit der Kamera nicht die Wirklichkeit ein, sondern schafft eine neue Wirklichkeit. Zwischenmenschliche Machtverhältnisse werden weniger mit darstellerischen Leistungen oder Dialogen transportiert, sondern mit bildkompositorischen und dramaturgischen Kniffs.9 In einer frühen Szene in Seven, in der Mills und Somerset im Büro ihres Vorgesetzten über den Fall diskutieren, filmt Fincher Somerset fast über die ganze Szene hinweg von der Seite, um die Ignoranz von Somerset gegenüber Mills filmisch auszudrücken. Erst als sich Mills direkt an Somerset wendet, zeigt Fincher Somerset in einer frontalen Naheinstellung. Die Wirkung an dieser Stelle ist einschneidend, das Mittel subtil.

David Fincher schliesst die Kinosituation also – im Gegensatz zu Nolan und Tarantino – in seine Filme nicht mit ein, er beschränkt sich auf die innerfilmische Wirkung. Deshalb funktionieren seine Filme auch auf einem Laptop oder anderen mobilen Abspielgeräten. Fincher denkt bereits von den Bildern her, weshalb die Grösse, Schärfe oder qualitative Beschaffenheit eines Bildes keine entscheidende Rolle spielt. Seine Filme müssen nicht in einem IMAX-Kino aufgeführt werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Sie sind bereits Kino. Doch wie können wir mit diesen Beobachtungen auch den Blick auf die gegenwärtige Medienlandschaft jenseits des klassischen Kinofilms schärfen?

Digitale Videophilie von pseudo.com bis Netflix

Die Digitalisierung des Kinos ist heute sowohl in der Produktion als auch in der Distribution so weit fortgeschritten, dass sich nur noch die oben aufgeführten Nostalgiker, die sich analoge Hilfsmittel leisten können, auf den Film als genuin analoges Medium berufen. Diese Entwicklung war vor zwanzig Jahren aber noch nicht in dieser Deutlichkeit absehbar. Ein Blick auf die Plattform pseudo.com, die 1993 von Josh Harris gegründet wurde, zeigt die Probleme der Etablierung von digitalen Technologien respektive von online verfügbaren Videos sehr deutlich. Was vom Gründer im Nachhinein als «fake company» abgetan wurde10, war tatsächlich ein Vorbote der digitalen Revolution der Medienwelt, wie sie mit YouTube und spätestens ab der festen Etablierung von Netflix als Online-Video-Anbieter die Smartphone- und Laptopbildschirme, aber auch die Home Cinemas eroberte. Das Unternehmen produzierte für die eigene Online-Plattform unterschiedliche Inhalte und bot teilweise sogar Live-Übertragungen an. Damit barg es zumindest in den Augen der Investoren grosses Potenzial. Im Zuge der Dotcom-Bubble wurden wie bei vielen anderen Unternehmen Millionen investiert, ohne dass bis dahin auch nur ein Dollar Einnahmen generiert wurde. Die technischen Grundlagen der Plattform mit den ausschliesslich stockenden Videos in niedrigster Auflösung waren natürlich bei Weitem nicht ausreichend, um den Versprechungen gerecht zu werden, und die Unternehmensführung war unseriös bis inexistent.11 Mit dem Platzen der Investitionsblase und dem Börsencrash ging auch das Unternehmen in Konkurs und damit trat auch die Idee einer digitalen Videoplattform in den Hintergrund.

In den frühen Zeiten von YouTube einige Jahre später herrschte trotz massgeblicher Verbesserungen der digitalen Aufnahmetechnik die Vorstellung vor, dass sich ein Qualitätsdiskurs im Wesentlichen um Fragen der Aufnahmequalität und des Amateurcharakters der Inhalte drehen würde.12 Wenn wir uns das breite Spektrum an audiovisuellen Unterhaltungsmedien anschauen, wird schnell klar, dass der hauptsächliche Konflikt nicht in der technologischen Grundlage liegt, sondern im Format und in der soziokulturellen Einbettung von audiovisuellen Medien. So lässt sich genauso wie bei dem angespannten Verhältnis zwischen Fernsehen und Kino gerade auch ein Spannungsverhältnis zwischen einer cinephilen Filmkultur und einer videophilen Netzkultur feststellen.13 Zwar war das Netz bereits früh mit Datenbanken wie IMDB oder Rotten Tomatoes ein Refugium für Filmliebhaber, die online Hintergrundinformationen und Rezensionen zu aktuellen Kinofilmen recherchieren oder in Online-Foren dazu ihre Meinung kundtun wollten. Der schwedische Medienwissenschaftler Göran Bolin sieht in dieser digitalen Auseinandersetzung ein neues Feld der kulturellen Produktion und des Konsums, in dem kulturelle Werte durch aktive und passive Partizipation hervorgebracht und verhandelt werden.14 Dennoch lässt sich gerade bei den «digital born» oder «online born» Videokulturen ein deutlicher Generationenwechsel feststellen, der sich noch viel direkter auf die kulturelle Bewertung und Verortung auswirkt.

Die unterschiedliche kulturelle Bewertung ist durchaus komplex und nimmt sowohl die vergrösserte Wahlfreiheit als auch die situationsbezogene Nutzung in Betracht. So würde eine Gegenüberstellung von Bergmans Persona auf der Leinwand und Nyan Cat auf dem Smartphone viel mehr über die Bedürfnisse der jeweiligen Zuschauergruppen in den unterschiedlichen Rezeptionssituationen aussagen als über eine klare Verortung zwischen elitärer Filmkultur und poppiger Trashkultur. Derartige Aushandlungsprozesse gehören genauso sehr zur Geschichte audiovisueller Medien wie deren permanenter technischer Wandel. Während sich die Kinematografen Anfang des 20. Jahrhunderts noch am Theater und Varieté abarbeiteten, diente das Kino in den Hochzeiten der Diskussion zu ‹neuen Medien› wiederum als Matrize für eine Diskussion der neuen Möglichkeiten digitaler, interaktiver Medien. Ein gutes Beispiel dafür ist der Rückgriff auf die Logik des kinematischen Universums von Dziga Vertov in Lew Manovichs Language of New Media. Um seine kunst- und medientheoretische Analyse von neuen Medientechnologien wie Photoshop und digitalem Kino einzuführen, bezog er sich in seinem Vorwort auf die Montagelogik und Medienreflexivität des Films Der [Mensch] mit der Kamera15. Dabei wird der Film als Paradigmenwechsel weg von einer linearen, primär narrativen Filmgestaltung hin zu einer räumlich angeordneten Filmgestaltung gelesen, die mehr Verwandtschaft mit digitalen Verfahren als mit dem klassischen Hollywoodkino hat. Das Beispiel zeigt jedoch auch gut auf, wie eine kritische Analyse und eine implizite kulturelle Bewertung Hand in Hand gehen können.

Derartige Legitimationsdiskurse und qualitative Beurteilungen der Neuheit, aber auch des kulturellen Wertes, sind selbstverständlich nicht als müssige Fragestellung zu verstehen, sondern als medienökonomisch notwendige Eingriffe in einen durch Privatisierung und Monopolisierung immer stärker umkämpften Medienmarkt. So bildete sich beispielsweise parallel zur Einführung des eingangs erwähnten Musiksenders MTV in den USA ein Diskurs in der amerikanischen TV-Branche heraus, der in den 2000er-Jahren mit dem Schlagwort ‹quality TV› wieder eine Konjunktur erreichen sollte. Darunter wird nichts anderes verstanden als eine Qualitätsoffensive der Fernsehproduzentinnen und Fernsehproduzenten, die ihre Inhalte als kulturell wertig und marktfähig anpreisen wollen. Mit Bezug auf die Erfolgsserien von HBO wie Sopranos, Lost etc. wurde der Begriff wieder aufgewärmt, DVD-Boxen als neue Tolstoi-Gesamtwerke gefeiert und narrative Komplexität zur Maxime eines neuen Fernsehens erklärt, das sich an cineastischen Qualitäten orientiert. Gleichzeitig formieren sich dabei als direkte Filmderivate auf der einen Seite neue Formate der populären und digitalen Unterhaltung – von einer Unzahl an populären filmischen Compilations im Sinne von ‹Top 10 Underrated Romantic Comedies› bis hin zu wissenschaftlich-analytischen Video-Essays.16 Andererseits werden die audiovisuellen Formate auch immer wieder durch neue Abspielformen und Vorführkontexte, interaktive und partizipative Elemente erweitert.

Interaktives Kino – überall – jederzeit

Ein ausgefallenes Beispiel für einen derart alternativen Vorführkontext stellt die Veranstaltungsreihe «Poolkino» im Neubad in Luzern dar. Das Neubad ist ein altes Hallenbad, das als Kulturhaus zwischengenutzt wird. Im trockengelegten Pool finden Kulturveranstaltungen aller Art statt, unter anderem das Poolkino. Dort können Besucher/-innen jeweils im Vorfeld der Veranstaltung zwischen drei Filmen zu einem Thema auswählen. Das Voting läuft digital über Facebook und analog über anzukreuzende Flyer. Der Pool ist mit einem riesigen Sitzpolster bestückt, verfügt über eine Soundanlage und eine ausfahrbare Leinwand. Vor jeder Vorführung findet eine Einführung statt, die das Publikum mit dem Thema (jeweils eine Regisseurin, ein Regisseur, ein Genre oder ein Überthema) vertraut macht und weiterführende Denkansätze bietet.

Die Endveranstaltung jeder Saison stellt der sogenannte ‹YouTube-Slam› dar. Bei dieser Veranstaltung können sich zu Beginn potenzielle Mitstreiter/-innen melden, die anschliessend nach vorne gehen, um dem Publikum YouTube-Videos vom bereitgestellten Laptop zu zeigen. Dies geschieht nach vorgegebenen Kategorien sowie unter erheblichem Druck: Wie es sich für einen Slam gehört, scheiden die Kandidatinnen und Kandidaten aus, wenn die Buhrufe des Publikums einen bestimmten Dezibel-Grad erreicht haben. Diejenigen, die das Publikum am längsten bei der Stange halten können, gewinnen am Ende der Veranstaltung Preise.

In diesem Fall haben wir es mit einem Format zu tun, das die Videomaschine YouTube in eine – hinsichtlich Grösse und Akustik – ursprüngliche Kinosituation verlegt, ohne dabei tatsächliches filmisches Kinoformat zu verwenden. Hier werden also zwei grundverschiedene Vorführungstechniken bzw. Formate zu einem neuen Veranstaltungsformat vermengt. Dies ist ein aktuelles Beispiel für die Unterminierung und Neubeschreibung von althergebrachten Vorführungstechniken, die bereits jetzt einen Publikumsschwund erleben und ohne neue, innovative Ideen aussterben werden. Doch rein qualitativ betrachtet handelt es sich dabei um ein temporäres, improvisiertes und interaktives Kino, das gerade aufgrund dieser drei Charakteristika keines ist.

Das Kino, das kein Kino ist, hat selbst eine lange Geschichte, die derjenigen des institutionalisierten Kinos bereits vorausging und diese auch weiter stets begleitete. Ein gutes Beispiel dafür ist der frühe Einsatz der Kinematografen, die als technische Attraktion in Variété-Shows eingebunden wurden und bei Weitem keinen Anspruch auf eine Alleinstellung hatten. Zudem deuten die historischen Imaginationen des Audiovisuellen auch darauf hin, dass ein Teil des Kinos nie ‹nur Kino› sein wollte.17 Das Beispiel des YouTube-Slams zeigt, dass selbst der Kern der Kinosituation als ‹Vorführung› neu gedacht werden kann. Ludwig Vogl-Bienek beschrieb diese Form der Mediennutzung mit Bezug auf die Laterna magica im 19. Jahrhundert als «Projektionskunst».18 Genauso wie die technischen Geräte vielseitiger geworden sind, sind auch die Formen dieser Vorführkunst diverser geworden. Die vermeintliche Maxime der Immersion hat die idealisierte Kinosituation reduziert auf ein Setting, das in der marxistisch geprägten psychoanalytischen Filmkritik der 60er-Jahre einen der grössten Kritikpunkte der Filmindustrie ausmachte: Für Jean-Louis Comolli und Jean-Louis Baudry bildet das klassische Kino einen ideologischen ‹Apparat›, in den die Zuschauer passiv und isoliert eingespannt sind. Diese gesellschaftliche Kritik beruhte dabei im Wesentlichen auf der räumlichen Anordnung und der Fixierung auf die traditionelle Kinosituation mit abgedunkeltem Raum und einem Publikum, das gebannt auf die höher gelegene Leinwand starrt.19 Ein besonders prophetisches Beispiel, dieses zumindest problematische Setting aufzubrechen, stellt die Filminstallation «Kinoautomat» dar, die 1967 im tschechoslowakischen Pavillon der Weltausstellung in Montreal ausgestellt wurde. Bei diesem ersten interaktiven Kinofilm wurde das Publikum in die Entscheidungen eingebunden, wie der Film weiter zu verlaufen habe. Auch wenn Versuche einer Marktetablierung von interaktiven Filmen immer wieder gescheitert sind, wurde damit ein Grundstein einer interaktiven Multimedialität gelegt.20

In der Zwischenzeit gehört diese interaktive, multimediale Kultur gerade im privaten Bereich zum Medienalltag, in dem wir schnell einmal das Smartphone vor drei Nasen halten, um etwas vorzuführen. Gleichzeitig haben sich auch hier unterschiedlich stark formalisierte Institutionen etabliert, in die sich etwa auch ein YouTube-Slam einreihen lässt. Während die klassischen Festivals gerade immer auch die audiovisuelle Bespielung von temporären öffentlichen Räumen zum populären Verkaufsschlager gemacht haben, bildeten sich mit VJing oder grossangelegten Videoinstallationen durchaus auch eigene Vorführpraktiken heraus, um die eigene Institutionen und Communities entstanden sind.

Medienkultur als Mashup

Mit einem Blick auf das Schweizer Bundesgesetz über elektronische Medien21, das sich zurzeit in Vernehmlassung befindet, lässt sich zwar feststellen, dass für die Medienvielfalt insbesondere die digitalen Angebote berücksichtigt werden müssen. Doch die Beschränkung auf die Bereiche Radio und Fernsehen macht zu sehr deutlich, dass in dem neuen Vorstoss vor allem defensive Eingeständnisse an die No-Billag-Front gemacht werden. Gerade in Bezug auf die «partizipativen Medienangebote für bestimmte Bevölkerungsgruppen» wären eigentlich spannende Entwicklungen zu erwarten, auch wenn der zwingende Fokus auf «bestimmte Bevölkerungsgruppen» weniger eine zeitgemässe und partizipative Medienkultur, sondern vielmehr SRF bi de Lüüt erwarten lässt. Ein spannendes Konzept für die mediale Partizipation wurde vom Pariser Mashup Film Festival22 umgesetzt, das sowohl die Verbindung von Publikum, Amateuren und Institution als auch zwischen Vorführsituation und Online-Begleitung eines Medienevents schafft. Im Vorfeld des Festivals werden mehrere Filmausschnitte zur Bearbeitung freigegeben und die Teilnehmenden werden aufgefordert, aus den Bestandteilen eigene Mashup-Videos zu erstellen. Die teilweise stark und virtuos bearbeiteten Videos werden anschliessend online zur Bewertung zur Verfügung gestellt und die Gewinner/-innen-Videos werden anlässlich des Festivals auf der grossen Leinwand vorgeführt. Dadurch werden interaktive, digitale und analoge Momente der Mediennutzung und Mediengestaltung über einen längeren Zeitraum intensiv miteinander verschränkt und nicht dogmatisch an eine Produktions- und Rezeptionssituation gekoppelt.

Nach einem guten Jahrhundert der institutionengeleiteten Medienkultur sind wir in einer chaotischen Gegenwart angekommen, in der sich die Vorführdispositive, die Narrative und Ästhetiken der vergangenen Jahrhunderte überlagern und teilweise konkurrieren. Die Zeit ist reif, diese Situation nicht nur als Bedrohung traditioneller Medien zu verstehen und technische Innovationen abschätzig in die Ecke der Populärkultur zu schieben, sondern auch jenseits von Experimentalfilmen Brücken zu bauen zwischen Video- und Kinokultur.

Der Bericht «Cinema Digital Suisse» zu den Umwälzungen in der Filmindustrie in der Schweiz liegt in der Zwischenzeit mehr als ein Jahrzehnt zurück. Insbesondere die Prognosen in Bezug auf die digitalen Verleihsysteme sind in der Zwischenzeit zum Alltag geworden. https://www.bak.admin.ch/dam/bak... (Zugriff: 12. September 2018)

Geoffrey MacNab, «Film vs Digital? In the same way that a new generation of music lovers are rediscovering vinyl, cinema enthusiasts are discovering, or rediscovering, celluloid.» https://www.independent.co.uk/ar... (Zugriff: 12. September 2018)

Ihr Argument ähnelt hierin Argumenten von (noch nicht ganz ausgestorbenen) konservativen Zeitgenossen, die die Sklaverei oder das nicht vorhandene Frauenstimmrecht mit dem Umstand begründeten, dass es «halt schon immer so war».

Das Argument, dass das analoge Bild stärker der menschlichen optischen Wahrnehmung entspreche als digitale Darstellungsformen, wurde in der Zwischenzeit mehrfach widerlegt. So hatte Barbara Flückiger bereits 2003 die Störeffekte des digitalen Bilds massgeblich an einer Gewöhnung an analoge Bildverfahren statt einer grundsätzlichen Unverträglichkeit festgemacht. Siehe Barbara Flückiger, «Das digitale Kino: Eine Momentaufnahme. Technische und ästhetische Aspekte der gegenwärtigen digitalen Bilddatenakquisition für die Filmproduktion», in: Montage/av 12/1 (2003), S. 28–54.

Bei einer Aufführung von Dunkirk (US 2017) beispielsweise, der der Autor Heinrich Weingartner beiwohnte und die in einem kleinen Kino in der französischen Bretagne stattfand, war ein Flugzeug in einer extremen Panorama-Aufnahme ungefähr zehn Sekunden lang nicht zu erkennen. Das Publikum fragte sich, woher das Wespengeräusch aus der oberen rechten Bildhälfte kommt.

Eine Entwicklung, die übrigens auch bei Wes Andersons jüngstem Œuvre beobachtet werden kann.

Reservoir Dogs (US 1992) beispielsweise wäre wohl nie ein derartiges Meisterwerk geworden, wenn Tarantino ein grösseres Budget gehabt hätte und den im Film nicht zu sehenden Banküberfall hätte filmen können.

Hitchcocks Idealvorstellung von Kino war bekanntlicherweise die direkte Manipulation des Publikums; im legendären Interview mit François Truffaut sprach er den – womöglich nicht ganz ernst gemeinten – Wunsch aus, irgendwann nur noch mit direkt an den Zuschauerinnen und Zuschauern angeschlossenen Elektroden das Publikum emotional zu manipulieren.

Diese These wird auch vom Umstand gestützt, dass Hitchcock häufig Rückprojektionen verwendete und Fincher auch dann CGI verwendet, wenn es um eine scheinbar belanglose Dialogszene geht. Die Authentizität einer Szene hängt nicht von der tatsächlich gefilmten Authentizität – getreue Schauplätze, möglichst ‹echte› Effekte – ab, sondern von derjenigen, die Hitchcock und Fincher – egal mit welch artifiziellen Mitteln – erschaffen.

Xeni Jardin, «Josh Harris: ‹Pseudo was a fake company.›» https://boingboing.net/2008/06/2... (Zugriff: 12. September 2018)

Besonders beeindruckend werden die exzessiven Partys und entgrenzten Experimente des Unternehmens in der Biografie zu Josh Harris dargestellt. Siehe Andrew Smith, Totally Wired: The Wild Rise and Crazy Fall of the First Dotcom Dream, New York 2013.

Damit verbunden war auch die Meinung vieler Analysten, dass Google mit dem Aufkauf von YouTube ein grosses Risiko eingegangen sei und bei Weitem zu viel für die Plattform bezahlt habe in Anbetracht der unsicheren Zukunft der Plattform. Siehe Michael Strangelove, Watching YouTube: Extraordinary Videos by Ordinary People, Toronto 2010.

Eine vergleichbare Entwicklung zu einer eigenen Produktions- und Konsumlogik des ‹kleinen Bildschirms› zeichnet Glen Creeber in seinem Buch Small Screen Aesthetics nach. Siehe Glen Creeber, Small Screen Aesthetics: From Television to the Internet, London 2013.

Vgl. Göran Bolin, Value and the Media: Cultural Production and Consumption in Digital Markets, Abingdon-on-Thames 2011.

Der russische Originaltitel Человек с кино-аппаратом wird in der Regel trotz der dominanten Darstellung einer weiblichen Cutterin mit dem männlichen Geschlecht als «Mann mit der Kamera» übersetzt. Zur weiblichen Agency in der Postproduktion im sowjetischen Filmsystem siehe «Women at the Editing Table: Revising Soviet Film History of the 1920s and 1930s». In: Apparatus. Film, Media and Digital Cultures in Central and Eastern Europe 6/2018.

Vgl. Miklos Kiss, Film Studies in Motion: From Audiovisual Essay to Academic Research Video. 2016. http://scalar.usc.edu/works/film... (Zugriff: 12. September 2018)

Vgl. William Uricchio, «Cinema as Detour? Towards a Reconsideration of Moving Image Technology in the Late 19th Century», in: Knut Hickethier, Eggo Müller, Rainer Rother, Der Film in der Geschichte, Berlin 1997, S. 19–25.

Ludwig Maria Vogl-Bienek, «Projektionskunst: Paradigma der visuellen Massenmedien des 19. Jahrhunderts», in: Joachim-Felix Leonhard, Medienwissenschaft: ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin 1999.

Jean-Louis Baudry, Alan Williams, «Ideological Effects of the Basic Cinematographic Apparatus», in: Film Quarterly. Vol. 28, No. 2 (Winter, 1974–1975), S. 39–47.

Dabei nehmen insbesondere die durchgehend gescheiterten Experimente mit interaktiven Filmen auf CD-Rom einen besonderen Stellenwert ein. Siehe Bernard Perron, «From Gamers to Players and Gameplayers. The Example of Interactive Movies», in: Mark J. P. Wolf, Bernard Perron (Hg.), The Video Game Theory Reader, Abingdon-on-Thames 2003.

Bundesamt für Kommunikation (BAKOM): Zukünftiges Gesetz über elektronische Medien. https://www.bakom.admin.ch/bakom... (Zugriff: 12. September 2018)

http://mashup-film-festival.com/ (Zugriff: 12. September 2018)

Benjamin Eugster
*1987, hat an der Universität Zürich Populäre Kulturen, Filmwissenschaft und tschechische Literaturwissenschaft studiert. Seit 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fachgruppe Blended Learning an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Er hat zu partizipativen Medien, digitalem Wandel, DIY und audiovisuellen Remix-Praktiken publiziert.
(Stand: 2020)
Heinrich Weingartner
*1989, Master of Arts in Philosophie und Filmwissenschaften. Lebt und arbeitet als freier Journalist in Luzern. Mitglied der CINEMA-Redaktion.
(Stand: 2021)
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