BETTINA SPOERRI

CLARA HASKIL (PRUNE JAILLET, PIERRE-OLIVIER FRANÇOIS, PASCAL CLING)

SELECTION CINEMA

Charlie Chaplin, der mit ihr gut befreundet war, nannte sie ein «Genie» – in einem Atemzug mit Einstein und Churchill. Die grosse Pianistin Clara Haskil (1895–1960) selbst hatte solche Selbstzweifel, dass sie öfter nach einem Konzert für ihre künstlerische Leistung die vernichtende Beurteilung «Schrecklich!» ausstiess. Der Dokumentarfilm Clara Haskil spürt dem Geheimnis des Phänomens einer herausragenden Künstlerin nach, deren musikalische Interpretationen bis heute von Publikum und Musiker/-innen verehrt und bewundert werden, die aber zu ihrer Lebzeit über viele Jahre wenig ihr gebührenden Erfolg erleben durfte.

Das Drehbuch- und Regietrio Pascal Cling, Pierre-Olivier François und Prune Jaillet setzt als Ausgangspunkt seiner Nacherzählung der Vita einer weltberühmten Musikerin den wichtigen internationalen Clara-Haskil-Klavier-Wettbewerb, der in der Schweiz ausgetragen wird: in Vevey, dem Ort, wo die Pianistin ab 1942 bis zu ihrem Tod wohnte. Michel Dalberto, Pianist und Mitglied des Wettbewerb-Komitees, und viele andere, unter ihnen auch der Dirigent Christian Zacharias sowie der Maler Michael Garady, dem Haskil Modell sass, versuchen die Einzigartigkeit des Spiels von Clara Haskil einzufangen. Dabei werden Präzision, Klangfülle und -permanenz wiederholt genannt, aber vor allem auch die überzeugende Echtheit und Ungekünsteltheit ihrer Interpretationen, Zeitlosigkeit und Tiefe.

Dass Haskils Karriere trotz ihres grossen Könnens über Jahrzehnte nicht entscheidend in Gang kam, hat zum einen mit historisch-politischen Umständen zu tun: In Bukarest in eine jüdische Familie geboren, wurde ihr Talent zwar früh entdeckt und gefördert, doch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts bedrohten nicht nur ihren wachsenden Bekanntheitsgrad, sondern bedeuteten eine direkte Gefährdung ihres Lebens; in letzter Minute konnte sie sich schliesslich vor der Besetzung Marseilles durch die Nazis in die Schweiz retten. Zum anderen aber machte ihr eine labile Gesundheit zu schaffen und eine gewisse Bühnenscheu, gepaart mit einer Haltung, die je nachdem als künstlerischer Anspruch oder übertriebene Kompliziertheit empfunden wurde. Es gibt offenbar keine Filmaufnahmen der musizierenden Haskil; diese bemerkenswerte Lücke umspielt der Film mit Tonaufnahmen, Ausschnitten von Briefen von Haskil an Schwester und Freunde, zahlreichen Fotografien und Home Movies. Wenn Clara Haskil dabei auch kein konzeptuelles oder visuelles Neuland betritt, sondern auf bewährte Biopic-Muster zurückgreift, so gelingt es dem Film doch, einen neugierig-forschenden Blick auf eine Künstlerin zu vermitteln, die in der Musikgeschichte nun weniger rätselhafte Ikone als zerrissene Persönlichkeit ist.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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