KATJA ZELLWEGER

CLOSING TIME (NICOLE VÖGELE)

SELECTION CINEMA

Mit Closing Time etabliert sich die Schweizer Regisseurin Nicole Vögele definitiv in der Filmkunst, die man bewegten Fotoessayismus oder Sinneskino nennen könnte. Die banale Handlung lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Mr. Kuo betreibt mit seiner Frau Mrs. Lin ein Imbisslokal, das nur in der Nacht geöffnet ist, und fährt eines Tages nach dem Einkauf auf dem Markt ans Meer. Der Film fesselt einen dennoch, dank seiner Bildpoetik und des eigenwilligen Gebrauchs von Ton. Die Nerven sind angespannt, wenn Siedfleisch mit der Schere zerstückelt wird, ein Strassenspiegel im Gras am Boden liegt oder der Rücken einer rauchenden Frau vor dem lauten Geldzähler wartet. Man erschrickt, wenn Mr. Kuos Moped durch die Nacht dröhnt, er aber stoisch und zielgerichtet geradeaus fährt. Lächeln muss man, wenn sich zwei Volltätowierte beim Essen gegenseitig misstrauisch beäugen. Und man geht mit wie in einem Liebesfilm, wenn sich plötzlich rote Aquariumsfische küssen oder jemand im Neonlicht ein Liebeslied an einem verstockten Karaoke-Anlass singt. Auch müdes, aber stetes Ventilatorengeflatter wird plötzlich zum gehaltvollen Symbol für menschlichen Fleiss, motiviert durch die Notwendigkeit von Geld und Beschäftigung. Schliesslich versucht sich auch die Natur immer wieder als Hauptdarstellerin in diesem Stadtfilm durchzusetzen, in dem die Nacht alles mit Dunkelheit oder verschlafenem Blau überzieht. Sie zerrt mit Wind und Regen an den Protagonisten und dem Beton der taiwanesischen Hauptstadt Taipeh und versucht sie aus ihrem traumwandlerischen, nächtlichen Alltagstreiben zu locken.

Im Interview mit «Filmexplorer» am Filmfestival Locarno, wo Closing Time Weltpremiere feierte, sprach Vögele davon, wie sie den Ton am ehesten wie eine Kommentarfunktion eingesetzt hatte. Immer wieder ertönen in ansonsten stummen Szenen tinnitusartige Störgeräusche, die Vögele manchmal in Grillengezirpe oder einen bassgetränkten Sound überlappen lässt, der schliesslich in die oft vom Verkehr durchsetzten Alltagsgeräusche zurückführt. Vögeles assoziativer Umgang mit Ton, Farbe und Bild ergibt eine chronologisch leicht zerstückelte Erzählung. Das ist gewinnbringend für den Film, der schliesslich auch eine innere Zeitumstellung, ja Zeitverkehrung erfahrbar machen will. Die ruhige Kamera, die sich anstelle eines Zooms fast nur via Ausschnittwechsel dem Objekt nähert und die auch eine Vorliebe für Farbintensität zeigt, hat Vögele mit den Kurzfilmen Nebel (2014) und Frau Loosli (2013) zu ihrem Markenzeichen entwickelt. Mit diesem neuesten Film bekennt sich die Filmemacherin, die intuitives Filmen im kleinen Team sowie Aufnahmen im Format Super 16mm bevorzugt und den Imbiss Mr. Kuos per Zufall gefunden hat, zu einem poetischen Sinneskino, das einen ruhigen Blick auf gesellschaftliche Phänomene richtet.

Katja Zellweger
*1986, Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Bern, arbeitet als Redaktorin der Berner Kulturagenda, 2014–2017 als Produktionsleitung und Teil der Programmationsgruppe im Schlachthaus Theater Bern tätig, davor wissenschaftliche Mitarbeit im Robert Walser-Zentrum Bern, Co-Gründung des «Dislike. Magazin für Unmutsbekundung», einem Format, das die Mannigfaltigkeit von Kritik zelebriert. Filmkritiken für filmexplorer.ch, Filmbulletin und Cineman im Rahmen der Critics Academy Locarno, in Bern vor allem im Kino Rex anzutreffen.
(Stand: 2021)

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