BETTINA SPOERRI

DER KLANG DER STIMME (BERNARD WEBER)

SELECTION CINEMA

Schon in seinem Dokumentarfilm Die Wiesenberger (2012) über die gleichnamige erfolgreiche Gruppe von Jodlern hat sich der aus Genf stammende Regisseur Bernard Weber der Wirkung gesungener Musik gewidmet. In seinem neuesten Film Der Klang der Stimme geht er seiner Faszination in vertiefter Form nach, lädt Musiker und Sänger/-innen, einen Stimmforscher und eine Therapeutin dazu ein, über die menschliche Stimme nachzudenken. Matthias Echternach untersucht am Institut für Musikphysiologie und Musiker-Medizin in Freiburg im Breisgau mithilfe von High-Speed-Kamera und Magnetresonanztomografie die Funktionsweisen von u. a. Mundraum, Stimmlippen und Zunge, um beschreiben zu können, wie bestimmte Gesangsklänge erzeugt werden. Besonders reizt es ihn, das aussergewöhnliche Phänomen der Sängerin Georgia Brown, die selten hoch zu singen vermag – es klingt beinahe wie ein Kreischen –, erklären zu können. Miriam Helle wiederum eröffnet den sie konsultierenden Menschen einen besseren Zugang zum Potenzial ihrer Stimme, lässt sie rufen, schreien, heulen, um zu sich zu finden. Auf der anderen Seite stehen zwei Protagonisten, die das Arbeiten mit ihrer eigenen Stimme zum Beruf gemacht haben: Die Sopranistin Regula Mühlemann, die vorwiegend klassische Musik singt, träumt vom 360-Grad-Klang, der einen Raum gleichmässig füllt. Der Vokalkünstler Andreas Schaerer, der als Sänger u. a. Träger des Echo-Jazz-Awards ist, verblüfft in verschiedenen Musikprojekten mit der grossen Wandelbarkeit der von ihm produzierten Bandbreite experimenteller Stimmklänge.

Regisseur Bernard Weber beobachtet diese vier Hauptfiguren bei ihrer Arbeit, befragt sie zu ihren musikalischen und wissenschaftlichen Erfahrungen und Erkenntnissen. Daraus ist ein lehrreiches Szenenmosaik entstanden, mit dem er nach Die Wiesenberger zum zweiten Mal den Publikumspreis der Solothurner Filmtage erhalten hat. Allerdings erhält man den Eindruck, dass ihn das gefilmte Bildmaterial selbst nicht ganz überzeugt hat, greift er doch immer wieder auf die Magnetresonanztomografie-Aufnahmen zurück. Diese sind zwar durchaus erstaunlich, aber natürlich schwindet dieser Effekt mit jeder Wiederholung. Das Kreisen um ähnliche Momente ist auch ein Indiz für die Dramaturgie des Films, der sich ab seiner Mitte nur noch wenig weiterentwickelt. Vielleicht hat es damit zu tun, dass das Wesentliche bei diesem Thema zwar hörbar, aber visuell-filmisch kaum vermittelbar ist. Die Musiker können vom Einswerden mit der Welt, der Erhebung, einer Art magischen oder mystischen Klang-Erfahrung erzählen – wie soll ein Film sie jedoch nachvollziehbar machen? Der Klang der Stimme animiert aber letztlich durch diese Lücke dazu, die Möglichkeiten der eigenen Stimme mehr auszuloten.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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