SIMON MEIER

LES HIRONDELLES DE KABOUL (ZABOU BREITMAN, ELÉA GOBBÉ-MÉVELLEC)

Afghanistan: Das junge Liebespaar Zunaira und Mohsen lebt Ende der Neunzigerjahre in Kabul unter der Herrschaft der Taliban. Die beiden Freidenker werden vom fundamentalistischen Regime besonders hart in ihrer Lebensweise eingeschränkt: Beide können ihre gelernten Berufe als Lehrer und Malerin nicht mehr ausüben. Die Universität ist geschlossen, der geliebte Buchladen und das Kino ebenfalls. Zunaira leidet als Frau noch stärker als Mohsen unter der Schreckensherrschaft: Sie darf nur noch mit einer Burka aus dem Haus. Nicht weit von den beiden entfernt wohnt der Gefängniswächter Atiq mit seiner Krebskranken Frau Mussarat. Der unterkühlte, mürrische Atiq, Kriegsveteran des sowjetischen Afghanistankrieges, begegnet seinen Mitmenschen und auch seiner Frau mit Abneigung. Nur gelegentlich blitzt ein Funke von Menschlichkeit in ihm auf. Ein solcher Funke wird auch durch eine unverhoffte Begegnung entfacht, nachdem sich für Zunaira und Mohsen durch einen Streit alles verändert...
 
Les hirondelles de Kaboul arbeitet mit einfachen, reduzierten, in matten Farben animierten Aquarellzeichnungen und eröffnet durch diese Abstraktion einen Imaginationsraum und eine Universalität, wie sie nur dem Animationsfilm eigen ist. In der Tradition von animierten Dokumentarfilmen wie Persepolis (Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud, FR/US 2007) oder Waltz with Bashir (Ari Folman, IL/FR 2008) stehend, entfaltet Les hirondelles de Kaboul seine Wirkung durch die künstlerische Transformation von Gräueltaten und Traumata, die diese erträglicher, aber nicht weniger eindringlich machen. Die Regisseurinnen Zabou Breitman und Eléa Gobbé-Mévellec legen den Fokus stark auf die Wahrnehmung von Zunaira und deren Rolle als Frau im Gewaltregime der Taliban. In ihren eigenen vier Wänden malt und singt sie, im öffentlichen Raum sieht sie die Welt hingegen nur durch das einengende Raster der Burka. Auch die Perspektive der Männer kommt durch den Fokus auf Atiq, der die frauenverachtenden Ansichten seiner Kollegen zunehmend zu hinterfragen beginnt, nicht zu kurz. Aus künstlerischer Sicht hätte man sich gewünscht, dass der Film das dem Animationsfilm inneliegende Potential zum Subjektiven und Surrealen noch mehr ausgeschöpft hätte, wie es in einer Szene deutlich wird, in der junge Frauen in beinfreien Kleidern aus einem Kino treten, nur um sich im gleichen Moment in zwei Frauen in Burkas zu verwandeln, die vor einer Kinoruine vorbeigehen.
 
Les hirondelles de Kaboul lief in der Sektion «Un certain regard» des Filmfestival Cannes und war für den César als bester Animationsfilm nominiert.
Simon Meier
*1986, Studium der Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Ethnologie an der Universität Zürich. Längere Sprach- und Forschungsaufenthalte in Louisiana und Neuseeland. Arbeitet als Bildredaktor bei Keystone-SDA. Seit 2011 Mitglied der CINEMA-Redaktion. www.palimpsest.ch
(Stand: 2021)
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