MATTIA LENTO

TUTTO L’ORO CHE C’È (ANDREA CACCIA)

Der im Solothurn präsentierte Dokumentarfilm Tutto l’oro che c’è kann auf verschiedene Arten gelesen werden. Er ist gleichzeitig ein narratives, kontemplatives und selbstreflexives Werk. Regisseur Caccias führt uns in den Regionalpark des Flusses Ticino, in die Lombardei, und er porträtiert einige Figuren, die sich auf den Wasserlauf und seine Umgebung beziehen.
 
Es gibt 5 Protagonisten, die alle zwei Merkmale gemeinsam haben: Sie sprechen kaum ein Wort und sind alle männlich. Im Übrigen haben sie unterschiedliche Alter und Beziehungen zum Fluss. Der Titel führt uns auf die stärkste Figur zurück, einen älteren Goldgräber, eine Person am Rande des Flusses und des Lebens, mit einer langsamen, alten, fast mystischen Gestik. Ein zweiter Mann in den Fünfzigern, auf der Suche nach seinem Garten Eden, erlebt den Fluss völlig nackt, ohne Hemmungen, trotz der Kamera. Ein anderer Mann, etwas jünger, geht stattdessen auf die Jagd, die innerhalb des Parks verboten ist. Ein Carabiniere im Ruhestand, der mit seiner Uniform und mit einer Kamera ausgestattet um den Fluss wandert, verleiht einigen Szenen die Stimmung eines Kriminalromans, während ein Junge, der Sohn des Regisseurs, der kreativste in seiner Beziehung zum Fluss ist, aus einem Bildungsroman zu stammen scheint. Diese sehr unterschiedlichen Geschichten, die in heterogenen Stilen erzählt werden, scheinen dazu bestimmt zu sein, sich zu begegnen. Dieses Gefühl der wahrscheinlichen Begegnung der Protagonisten begleitet den Zuschauer auf angenehme Weise bis zum Ende des Films.
 
Das Spektakel der Natur, der Tiere und Insekten, vermittelt durch einen hybriden Blick, der auf halbem Weg zwischen dem der Kamera und dem der Figuren liegt, ist eine Art roter Faden, der den Film begleitet. Der Park und der Fluss zeigen sich in ihrer Schönheit, sind aber Lichtjahre von der Idylle entfernt: Es ist, als ob eine ständige Bedrohung über ihnen lauern würde. In dieser kontemplativen Dimension erscheint der Mensch als eine schwerfällige Präsenz, fehl am Platz, als ein potentiell infizierendes, kolonisierendes Lebewesen.
 
Die Figuren, insbesondere der kleine Junge, sind Träger eines subjektiven Kamerablicks und werden gleichzeitig von der Kamera verfolgt. In einigen Szenen ist es sogar das Tier, das mit Misstrauen und Angst den Jäger beobachtet. Manchmal hat man den Eindruck, dass die Figuren so behandelt werden, wie die im Film dargestellte Natur, vor allem in jenen Momenten, in denen sie sich der Anwesenheit des Regisseurs weniger bewusst zu sein scheinen. Dieses Gefühl wird jedoch abrupt unterbrochen, wenn sich die Figuren auf die in unserem Leben allgegenwärtigen technischen Geräte wie Tablets oder Smartphones besinnen.
 
Das Filmprojekt erscheint einfach und komplex zugleich. Es ist der Regisseur selbst, der am Ende der Vorführung in Solothurn zugibt, dass er Räume hinterlassen hat, in denen der Zuschauer seine eigene Filmerfahrung aufbauen kann.
Mattia Lento
*1984 in Italien, Promotion über La scoperta dell’attore cinematografico (Pisa 2017), zurzeit Gastforscher und Dozent an der Universität Innsbruck mit einem Stipendium des Schweizer National Fonds. Forschungsschwerpunkte: Frühes Kino/Europäischer Stummfilm/Filmschauspielerei/Film und Migration/Film und Politik/Filmkultur in der Schweiz. Freier Journalist bei RSI und filmexplorer.ch.
(Stand: 2021)
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