BETTINA SPOERRI

WIR ELTERN (ERIC BERGKRAUT, RUTH SCHWEIKERT)

Eltern, die alles versuchen, um ihre Kinder zu fördern und dabei ihre Autorität verlieren, Erwachsene zwischen dem Drang und dem Zwang zur Selbstverwirklichung, Jugendliche, die orientierungslos im Überfluss der Möglichkeiten schwimmen und nicht daran denken, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen: Solche wunden Punkte einer Wohlstandsgesellschaft stellt Wir Eltern von Eric Bergkraut und Ruth Schweikert mittels einer raffinierten, hintergründigen Erzählweise heraus. Der Film, der nur auf den ersten Blick wie ein Spielfilm daherkommt, ist eine kluge Mischung von Auto- und Dokufiktion, die ihr bzw. das Paarleben mit drei Söhnen beschreibt und gleichzeitig auf vielschichtige Weise reflektiert.
 
Der Schauspieler und Dokumentarfilmer Eric Bergkraut, der sich in seinem filmischen Werk u.a. mit der Kritik an den Machtverhältnissen in Russland (u.a. in Citizen Khodorkovsky, 2015; Letter to Anna, 2008) auseinandergesetzt oder Peter Bichsel und Agota Kristof vor die Kamera geholt hat, und die Schriftstellerin Ruth Schweikert (zuletzt: Tage wie Hunde, 2019) brechen in diesem Low Budget-finanzierten Film ihre persönlichen Erfahrungen mithilfe eines komplexen künstlerischen Verfahrens, um skeptische Fragen nach den Grenzen von Erziehung zu stellen. ‹Echtes› Leben gerät in Wir Eltern ins Oszillieren, indem es mit fiktionalen Elementen auf verschiedenen Ebenen unterminiert wird: Bergkraut selbst ist in die Rolle des Familienvaters, der mit seiner Rolle hadert, geschlüpft, seine Partnerin indes wird von der Schauspielerin Elisabeth Niederer dargestellt, und die drei Söhne wiederum sind auch im realen Leben die Kinder von Bergkraut und Schweikert, doch sie tragen andere Namen – und auf ähnliche Weise ziehen sich kleinere und grössere Verschiebungen durch den ganzen Film. Einige Nebenrollen sind mit bekannten Schauspielergesichtern wie Peter Schweiger oder Beat Schlatter – als pedantischer Hauspolizist – besetzt. Dazwischen melden sich auf einer weiteren Ebene (reale) Experten wie der Entwicklungspsychologe Remo Largo oder der Paartherapeut Henri Guttmann aus der Küche oder etwa auch vom Wannenrand im Badezimmer der Familie (Hauptdrehort war die Wohnung Bergkraut/Schweikert), um über die zunehmende Eskalation der dargestellten innerfamiliären Konflikte nachzudenken.
 
Entstanden ist so ein ebenso abgründiger wie vergnüglicher Film, der einen einmal ungläubig den Kopf schütteln, dann wieder schmunzeln oder laut herauslachen lässt, während der Ernst der Sache nur umso nachdrücklicher deutlich wird. Bergkraut und Schweikert haben aus ihrem Film-Konzept, das aus der Not – zu wenig Förderung – zum Fast Track-Projekt wurde, nicht nur das Beste herausgeholt, nein: Dieser intelligente und humorvolle Film ist ein kleines Meisterwerk der kreativen Möglichkeiten, die sich eröffnen, wenn Authentizitätserwartungen und Formkonventionen produktiv unterwandert werden.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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