JONATHAN LEMIEUX

L’HOMME QUI FAIT CHANTER LES PIERRES

L'homme qui fait chanter les pierres von Mélanie Pitteloud, als Weltpremiere an den 55. Solothurner Filmtagen zu sehen, malt das intime Porträt von Gabriel Pitteloud, einem der wenigen Schöpfer von kunsthandwerklichen Kaminen in der Schweiz. Einnehmend offenbart sich Gabriel durch eine Reihe von Anekdoten, die von seiner Tochter – die bei diesem Film nicht nur Regie geführt, sondern ihn auch selbst produziert, gedreht und geschnitten hat – feinfühlig eingefangen werden. Durch das Alternieren zwischen den Erzählungen ihres Vaters über sein Leben und Szenen, in denen er einen neuen Kamin plant und baut, ergänzt durch Bilder seiner Heimat und seiner Umgebung (dem Wallis), gelingt es ihr, das Porträt eines Menschen zu malen, der untrennbar mit der Natur verbunden ist. Die organisch komponierten Aufnahmen ihres Vater, der friedlich bei der Arbeit ist, spiegeln die Ruhe der schweizerischen Landschaft wider und sind eine Hommage sowohl an diesen einsamen Mann als auch an die Zerbrechlichkeit der Natur.
 
Mit L'homme qui fait chanter les pierres knüpft die Schweizer Dokumentarfilmerin Mélanie Pitteloud, die in Montreal zur Filmregisseurin ausgebildet wurde, an ähnliche Themen an, die sie bereits in ihren früheren Arbeiten aufgegriffen hat, nämlich die Beziehung zwischen Mensch und Natur und den Kampf zwischen Tradition und Moderne. Ähnlich wie in ihrem ersten Kurzfilm (Aller)-Retour (CA 2010) und ihrem ersten Spielfilm Dans le lit du Rhône (CH 2017), stellt sie das Sounddesign in den Vordergrund und interpunktiert ihren Film mit Naturgeräuschen oder sogar mit absoluter Stille, die die Ruhe und Symbiose ihres Vaters mit der Natur widerspiegelt. In diesem Sinne wirkt die Tonspur des Films wie eine Erzählerin, die leise die Geschichten und die inneren Kämpfe ihrer Figuren flüstert. Die Tonbearbeitung von Pittelouds Filmen zeichnet sich durch eine grosse Nüchternheit aus, die jedoch die Kraft hat, den Zuschauer in ein kontemplatives Universum einzutauchen zu lassen. An die Klangatmosphären von Closing Time (Nicole Vögele, CH 2018) oder Ceux qui viendront, l’entendront (Simon Plouffe, CA 2018) erinnernd, ist Mélanie Pitteloud durch ihr Sound Design in der Lage ihren Vater und seine Steine ‹singen› zu lassen, ohne jedoch in blinde Bewunderung oder in eine persönliche hermetische Erzählung zu verfallen.
 
Melanie Pitteloud ist viel mehr als nur Regisseurin, sie ist sowohl Geschichtenerzählerin als auch Dirigentin. Sie lässt jede ihrer Einstellungen ‹singen›, indem sie durch deren Gegenüberstellung und ihre rohen Klanglandschaften eine visuelle und auditive Harmonie kreiert, die das Werk ihres Vaters widerspiegelt. Durch einen präzisen Schnitt konstruiert sie ihren Film Stück für Stück (oder Einstellung für Einstellung) auf dieselbe Weise, wie ihr Vater Stein für Stein einen Kamin baut und dabei die Schönheit und Poesie der Natur hervorhebt. L'homme qui fait chanter les pierres ist ein ethnographisches Dokument, nur dass die Filmemacherin nicht Bilder von Menschen einfängt, die durch dieselbe Sprache oder Kultur vereint sind, sondern vielmehr ihrem Vater, einem der letzten ‹fumistes d’art› der Welt, eine Stimme gibt, so leise sie auch sein mag. Ein Hybrid zwischen einem Dokumentarfilm und einem Porträt, ist L'homme qui fait chanter les pierres ein Film über einen Mann, der gleichzeitig Handwerker und Philosoph ist, sowie über seine besondere Beziehung zu seinen Steinen der Alpen und seinen gefährdeten Beruf.
Jonathan Lemieux
Lemieux ist ein multidisziplinärer Künstler aus Quebec, der ursprünglich aus Montreal stammt. Seine Videos werden von Vidéographe (Montreal) und Vtape (Toronto) vertrieben und wurden auf verschiedenen Festivals in der ganzen Welt gezeigt.
(Stand: 2020)
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