THOMAS HUNZIKER

LITTLE MISS FATE

Ruhig ist nur der Anfang. In einer für einen kurzen Animationsfilm schier endlos anmutenden Plansequenz gleitet der Kamerablick einen Wolkenkratzer empor. Zuoberst spielt eine riesige Hand auf einer Orgel, vor der zwei Bildschirme zu sehen sind. Auf einem davon föhnt sich ein Mann seine langen Haare. Da kommt vom anderen Bildschirm die Anordnung, dass sich ein Unglück ereignen soll. Die Hand zieht an einem Knopf mit dem Symbol eines Hundehaufens und sorgt dadurch dafür, dass der Mann einen Stromschlag erhält.
 
Die Hand des Schicksals meint es sowieso nicht gut mit dem Mann: auf dem Weg zu einem Rendezvous fällt er die Treppe runter, der Motor seines Autos springt nicht an, der Bus fährt im vor der Nase ab. Die nächste Begegnung mit einem Bus droht sogar tödlich zu enden. Doch da greift die Putzfrau in die Ereignisse ein. Als sich die Hand des Schicksals eine Pause gönnt, versucht die Putzfrau die Liebenden glücklich zu vereinen. Doch die Aufgabe ist zu anspruchsvoll. Die vielen Herzchen sorgen zwar zunächst für ekstatische Momente, überlasten das System aber schnell einmal. Das Liebespaar wird zum Sexmonster, das Herzen verschlingend durch die Stadt zieht.
 
Einen wilden Ritt präsentiert Regisseur Joder von Rotz mit seinem schonungslosen Animationsfilm Little Miss Fate. Die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet er schnell und lässt sie bald weit hinter sich. Das Liebespaar reisst sich die Kleider vom Leib und verwandelt sich in eine obszöne Kreatur mit vier Beinen, seitlich abstehenden Riesenbrüsten, einem Phallus als Kopf und einer riesigen Vagina mit Augen.
 
In einer Szene wird die Menschenjagd im Stil von Pac-Man inszeniert. In der nächsten Einstellung stürzt sich das Mischwesen auf einen als Zauberlehrling verkleideten Mickey Mouse – sozusagen eine Hommage an die wohl bekannteste Szene in einem Animationsfilm –, der sich gerade mit einem extraterrestrischen Wesen aus dem Alien-Universum vergnügt. Disney trifft unverhofft auf HR Giger. Der Zauberstab ist ein Vibrator, die Kondome liegen im Zimmer verstreut.
 
Little Miss Fate ist ein Angriff auf alle Sinne. Die Bildebene ist bereits überwältigend. Dazu kommt noch die üppige Musik- und Geräuschkulisse. Verbreiten zunächst noch betörende Orgelklänge eine fast transzendentale Stimmung, füllt sich die Tonebene mit der Zeit mit schrillen Geräuschen und erdrückenden Synthesizer-Klängen. Little Miss Fate ist dermassen vollgepackt mit popkulturellen Verweisen und enthält sogar biografische Elemente – im Ciné Sex läuft gerade der Animationsfilm Coyote –, dass zahlreiche Betrachtungen notwendig sind, um alle Aspekte dieses verblüffenden Werks zu erfassen.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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