MATTIA LENTO

FAVOLACCE (FABIO D'INNOCENZO, DAMIANO D'INNOCENZO)

Die Peripherie von Rom hat im letzten Jahrzehnt im zeitgenössischen Kino und in der Serienproduktion in Italien wieder an Popularität gewonnen. Die Brüder D'Innocenzo wuchsen ausserhalb der italienischen Hauptstadt, in der Nachbarschaft von Tor Bella Monaca, auf und haben mit ihrem Debüt La terra dell'abbastanza (IT 2018) einen herausragenden Film gedreht, der zum Genre des cinema di periferia gehört. In diesem Film verwendeten sie einen realistisch-dokumentarischen Stil und gaben ein düsteres und verwahrlostes Bild der Vorstädte von Rom wieder. Auch in ihrem zweiten Film, Favolacce, siedeln die beiden Regisseure ihre Geschichte wieder in der Vorstadt an, gehen aber über die Koordinaten dieses Makrogenres hinaus.
 
In Favolacce, der bei der letzten Berlinale für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, erhalten die Vorstädte Roms eine archetypische, fast zeitlose Dimension. Die Ereignisse, die sich im berüchtigten Stadtteil Spinaceto – dessen schlechter Ruf aus Nanni Morettis Caro diario (IT/FR 1993) stammt – auf Drehbuchebene abspielen, könnten eigentlich überall anderswo in der westlichen Welt stattfinden. Wir können Rom in den unfehlbar ausgeprägten Akzenten erkennen, aber nicht viel mehr. Die architektonische Regelmässigkeit, die obsessive Präsenz der Gärten und eine gewisse Art von Konformismus lassen eher an die amerikanischen Suburbien der 1950er Jahre denken, welche die Vorstadt schlechthin verkörpert. Dieser Verdacht wird durch die literarischen Vorbilder der beiden Regisseure bestätigt, die bei mehreren Gelegenheiten erklärt haben, dass sie sich ausdrücklich darauf beziehen. Inspiriert wurden die beiden Autoren unter anderem von Schriftstellern wie John Updike oder Richard Yates, Sängern der sozialen Ängste des amerikanischen Mittelstandes.
 
Die Vororte von Favolacce sind von der Sonne verbrannt, aufgeräumt, mehr oder weniger wohlhabend, manchmal scheinen sie sogar solidarisch zu sein. Aber es ist alles nur Schein: Die Gewalt ist unsichtbar, schleichend, erstickt und bereit, auf höchst unerwartete Weise zu explodieren. Die Geschlechterverhältnisse sind giftig: Die Männlichkeit kämpft darum, ihre traditionelle hegemoniale Rolle aufrechtzuerhalten, sie befindet sich aber in einer tiefen Krise, während die weiblichen Figuren nicht bereit dazu scheinen, aus ihren traditionellen Geschlechterrollen auszubrechen. In diesem Zusammenhang sind es die Jüngsten, die leiden, aber sie tun dies im Stillen. Während die Erwachsenen – auch vom spielerischen Standpunkt aus gesehen – nervös, übertrieben grotesk erscheinen, vertrauen die Kinder ihre Unruhe der Stille, den Blicken, der Unbeweglichkeit an. Die Führung der Schauspieler_innen ist eine der Stärke des Films, zusammen mit der Fotografie und Bildkomposition von Paolo Carnera, die durch eine geschickte Arbeit mit dem Profilmischen erfolgte.
 
Die Kinder in Favolacce, die gezwungen sind, das mittelmässige, ernüchternde Spektakel des Elternlebens zu beobachten, haben ihre Unschuld verloren, und dank einem Lehrer mit einer beunruhigenden und zugleich befreienden Präsenz, wird das Vorstadtmärchen in einen wahren Alptraum mit schrecklichen Farben verwandelt.
Mattia Lento
*1984 in Italien, Promotion über La scoperta dell’attore cinematografico (Pisa 2017), zurzeit Gastforscher und Dozent an der Universität Innsbruck mit einem Stipendium des Schweizer National Fonds. Forschungsschwerpunkte: Frühes Kino/Europäischer Stummfilm/Filmschauspielerei/Film und Migration/Film und Politik/Filmkultur in der Schweiz. Freier Journalist bei RSI und filmexplorer.ch.
(Stand: 2021)
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