MILOŠ LAZOVIĆ

VIELFÄLTIGKEIT IN ZAHLEN — DIE 45. SCHWEIZER JUGENDFILMTAGE AUS ZUSCHAUERSICHT

Es ist Samstag. Die Uhr in der oberen rechten Ecke zeigt 18 Uhr 16 Minuten an. Wir schauen den Film 2402 (CH, 2020) von Tobias Zürrer. Ein Junge wird nach einem Hustenanfall des Sportsaals verwiesen, in dem er seine Matura schreibt. Wie im Vorspann des Kurzfilms bereits angekündigt, sehen wir die mögliche Realität. Wir sind 28, 29, nein sogar 30, und dann wieder 29 Zuschauer_innen. Wurde nun auch jemand des virtuellen Kinosaals verwiesen?

Dass die Menschen den Kinosaal manchmal auch absichtlich, um die Kinowerbung zu vermeiden, einige Minuten nach dem Anfang der Projektion betreten, oder ihn wiederum mehr oder weniger demonstrativ verlassen, ist allen bekannt. Dass man dabei aber anonym bleiben kann, ist wohl dem Format der diesjährigen Ausgabe der Schweizer Jugendfilmtage zu verdanken. Wie es all meinen Telefonaten mit den Menschen hinter dem Bildschirm dieser 45. Jubiläumsausgabe des Festivals zu entnehmen ist, so sollte dieses Festival vor allem Austausch ermöglichen – so auch für Julietta Korbel, die als letzte Gewinnerin des goldenen Panters dieses Jahr als Jurymitglied fungiert. Damit dieser Anspruch auch dieses Jahr gewährleistet wird, wurden verschiedene Angebote für eine virtuelle Zusammenkunft entwickelt. In den Zoom-Workshops mit erfahrenen Filmschaffenden, in live ausgestrahlten Podiumsgesprächen und Artist-Talks auf Zoom, selbstverständlich auch auf Instagram. Und zum Abschluss gab es auf einer virtuellen Rooftop-Party die Möglichkeit mit anderen Avataren ins Gespräch zu kommen.

Dass nicht nur ein Ersatz für die Erlebnisse im Foyer, sondern auch für den Kinobesuch angestrebt wurde, zeigt die Entscheidung, die Filme aus dem Hauptprogramm ausschliesslich im Live-Stream zu zeigen. Der Ersatz lässt die Zuschauenden tatsächlich nicht zurückspulen, wie sie auf Smart-Geräten gewohnt sind, und entspricht somit zumindest unserer Fernseherfahrung vor dem Replay-TV. Wenn man sich aber noch an die Kinokultur von damals erinnern kann, gleicht das Verhalten der Zuschauer_innen, welche immer wieder kommen und weggehen, eher einem Tabubruch. Die fluktuierende Anzahl von Menschen im virtuellen Kinosaal führt an sich zu keinen grossen Unannehmlichkeiten. Die Schritte hört man nicht. Man muss nicht einmal aufstehen oder sich umdrehen. Niemand blockiert die Sicht. Die verdateten Körperbewegungen der Zuschauer_innen werden aber gezählt, und als Zahlen in der oberen linken Ecke angezeigt. Nebst all den anderen der Kinoerfahrung fremden, konkurrierenden Bewegungsbilder ausserhalb des Bildschirms, lenkt so auch die angezeigte Anzahl der Zuschauer_innen im Bild selbst vom Geschehen an der virtuellen Leinwand ab.

Dort läuft inzwischen schon ein anderer Spielfilm. Ein Berliner Schlosser in Re:member (CH, 2020) von Nino Vincenzo Valpiani kann plötzlich keines Raums verwiesen werden, da er jede Tür mit Berührung öffnen kann, auch diejenige in seinem Kopf. Etwas später am selben Abend wird in Chiens Endormis (CH, 2020) von Sarah Rathgeb die Hauptprotagonistin, welche auf der Suche nach einer Matratze ihren Hund verliert und einen emotionalen Zusammenbruch erlebt, der Kirche durch einen segwayfahrenden Priester verwiesen. Der letzte Spielfilm am Samstagabend ist auch der einzige im Wettbewerb, der nicht in einer Landessprache oder auf Englisch gedreht wurde. Bićemo Najbolji (CH, 2020, Wir werden die Besten sein) von Jelena Vujović steht am Ende des Wettbewerbsprogramms mit der Geschichte einer alleinstehenden, schwangeren geflüchteten Frau beispielhaft für den bei der Festivaleröffnung proklamierten Anspruch der Förderung von Minderheiten. Die Spielfilme scheinen dabei im Programm selbst in der Minderheit zu sein. Die thematische und thematisierte Diversität wird von einer Vielfalt an Gattungen und Genres begleitet, welche von Animationsfilmen bis Musikvideos, oder etwa von Horrorfilmen bis hin zu Science-Fiction reicht. Die Geschichte und die Gegenwart der Frauen zulande wurde so von Enya Alber, Mara Gulli und Nina Stalder in ihrem experimentellen Film WHO IS WE? (CH, 2020) dokumentiert und kritisiert. Eine Stimme, manchmal auch ohne Dialog, bekamen Tiere, Karnivoren, Incels, Heimkinder, Transmänner in animierten und nicht-animierten Dokumentar- und Experimentalfilmen.

Dass die Grenzen verschwommen bleiben, hat das in Zusammenarbeit mit Filmfestivals aus Mexiko und dem Balkan erstellte Rahmenprogramm sichergestellt. Obwohl die drei Dokumentarfilme, welche im Rahmen des BorderPass-Projekts entstanden sind, nicht zu den ästhetisch gelungensten, welche auf diesem Festival gezeigt wurden, zählen, haben sie tatsächlich das Ziel des mehrjährigen Projekts, gemäss der Projektleiterin Leslie Ann Weiss, erreicht. Die kollektiven internationalen Produktionen sind trotz der Pandemie fertiggestellt worden und haben dabei die Grenzen gesprengt, ohne dass sie überquert werden mussten. Die weisse Pantherin aus dem futuristischen Festivaltrailer hat aber einen noch grösseren Sprung nach Mexiko gewagt und ist auf bekannte und unbekannte Beute gestossen. Die bekannten Realitäten, etwa kriminelle Milieus, Armut, und Geflüchtete werden in den Filmen der jungen Filmschaffenden mit ihren überraschenden Kehrseiten kontrastiert. Obwohl die gefilmten Realitäten fremd scheinen mögen, ermöglichen gerade solche Sprünge die eigene filmische oder profilmische Realität besser zu verstehen.

Dank der neuen Fokalisierung zeigen sich die Identitätsfragen als omnipräsentes Thema auch hierzulande. Die Co-Kuratorin des Fokus Mexiko und künstlerische Leiterin des internationalen Filmfestivals in Guanajuato, Nina Rodriguez, erzählt mir in einem Interview, wie das alltägliche Leben mit seinen Gender- und Klassenfragen neuerdings immer mehr in den Filmen der jungen mexikanischen Filmschaffenden vorkommt, und der Narcos-Hype langsam vorbei ist. Der Alltag scheint dabei aus Entscheidungen mit schwerwiegenden Folgen zu bestehen. Die richtige Entscheidung, wenn überhaupt eine zu treffen ist, fällt uns und dem Jungen im mexikanischen Taxi auf dem Weg nach Noapltepec im gleichnamigen Film von Hiram Islas  (MEX, 2019) genauso schwer wie Bian in Zürich in Lea Isabel Rohners Wettbewerbsfilm über eine kaputte Beziehung. Verzweifelt und unerfahren, aber trotzdem entschlossen dabei sind auch die Protagonist_innen anderer Filme dieser Ausgabe, welche Vielfalt zelebriert und durch Austausch Raum für Entfaltung bietet, wenn auch nur virtuell.

Miloš Lazović
*1995, Studium der Philologie in Belgrad, Zürich, Poznań und Brno. Derzeit im Masterstudium an der Universität Zürich in den Fächern Kulturanalyse und Filmwissenschaft und Redaktionsmitglied des CINEMA Jahrbuchs.
(Stand: 2021)
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