AYSEL ÖZDILEK

TURKEY MEETS TRASH PORN — DIE TÜRKISCHE SEXPLOITATIONWELLE DER YEȘİLÇAM-ÄRA 1974–1980

ESSAY

Istanbul, 1980. Drei Männer treffen sich vor dem Güneș-Kino im Istanbuler Stadtteil Aksaray und lösen ihre Kinotickets ein, um sich einen türkischen Pornofilm anzuschauen. Was nach einem Kinobesuch dreier harmloser Kunden klingt, soll sich als folgenschwerer Beginn für das sich längst anbahnende Ende einer ganzen Filmindustrie erweisen. Denn bei den drei Männern handelt es sich in Wirklichkeit um den Gouverneur von Istanbul, den Polizeichef und einen Journalisten der Zeitung Hürriyet, die eine Razzia durchführen werden, um dem «Sittlichkeitsverfall» und einer immer pornografischer werdenden Kinokultur ein Ende zu setzen. Um sich gegen spontane Razzien abzusichern, hatten viele Kinobetriebe, die über zwei Filmprojektoren verfügten, längst den Trick praktiziert, auf einem Projektor den pornografischen Film laufen zu lassen. Auf dem anderen Projektor wurde eine unverfängliche Sexkomödie bereitgehalten, die sofort eingesetzt wurde, wenn die Polizei das Kino stürmte.

Diese Razzia hingegen hatte ein anderes Format und der Kinobesuch dieser illustren Gesellschaft endete für das Güneș-Kino fatal: Nachdem sich die drei Herren als «normale» Kunden einen Pornofilm angesehen und damit das Kino auf frischer Tat ertappt hatten, wurde der Gesamtbestand dieser Filme beschlagnahmt und das Kino für einige Zeit geschlossen. Nach dem Militärputsch im September 1980 wurden die Pornos vollständig verboten. Damit wurde eine Ära beendet, die 1974 mit harmlosen Sexploitationfilmen begonnen hatte und mit ihrer abenteuerlich-radikalen Entwicklung bis 1979/1980 als das «dunkelste Kapitel der türkischen Filmgeschichte» in die Filmgeschichte selbst eingegangen ist. Die skandalöse Pointe bestand für viele bereits darin, dass es überhaupt eine öffentlich zugängliche (Soft-)Pornowelle in der muslimischen Türkei gegeben hat. Das Beiheft ‹Sanat Dergisi› der Zeitung Milliyet etwa titelte in der Ausgabe vom 5. Mai 1976: «Bu rezalet sona ermelidir» – «Diese Schande muss beendet werden». Zu sehen ist ein Jugendlicher, der in Untersicht vor einem Kino steht, sich mit seiner linken Hand an die Stirn fasst und auf ein Filmplakat über dem Kinoeingang starrt, auf dem ein Geschlechtsakt illustriert ist.

Wie hat diese turbulente Phase begonnen? Wie ist die mehrheitlich muslimische Bevölkerung in der Türkischen Republik damit umgegangen? Wie sah die Produktionspraxis aus? Was haben die Akteur_innen und Filmemacher dieser Ära zu sagen und was hat diese Phase mit ihnen gemacht? Die türkische Sexfilmwelle in den 1970er-Jahren changiert zwischen Skandal und Groteske.

Von Melodram zu Sexploitation

Das klassische Yeșilçam-Kino verdankt seinen Namen einer Strasse in Beyoǧlu/Istanbul, in der die meisten Filmstudios ansässig waren. Yeșilçam ist heute ein Nostalgiekino, welches seine goldene Ära Mitte der 1960er-Jahre bis Anfang der 1970er-Jahre hatte und das seine Beliebtheit unter anderem den glamourösen Stars, den vorhersehbaren Plots, den stereotypen Figurenkonstellationen und einem affektierten Schauspiel verdankt. In der Welt von Yeșilçam bieten die Helden meistens ein Musterbeispiel an moralischer Integrität und Anständigkeit, die klassische Yeșilçam-Heldin ist stets tugendhaft und kann ihre sexuelle Unschuld unter allen Umständen wahren. Wenn vorehelicher Geschlechtsverkehr dramaturgisch notwendig war, bewegte sich die Kamera bestenfalls in einem zarten Schwenk von den Liebenden zum knisternden Kaminfeuer, um elliptisch anzudeuten, was man nicht zeigen wollte und aufgrund der Zensurbehörde auch nicht zeigen konnte. Obwohl Erotik in der Geschichte des türkischen Films immer wieder eine Rolle gespielt hat, trat sie eher dezent in Erscheinung.

Die Krise des türkischen Kinos setzte mit der Wirtschaftskrise ab etwa 1973 ein. Im Gegensatz zu einigen europäischen Ländern gab es keine staatliche Filmförderung in der Türkei. Die Produzenten der Filme waren überwiegend geschäftstüchtige, am Profit orientierte Privatleute, die mit Beginn der Wirtschaftskrise kaum noch in Filmproduktionen investierten, da sich diese nicht mehr rentierten. Auch liess der Einzug des Fernsehers in die Haushalte Anfang der 1970er-Jahre die türkische Kinokultur nicht unbeschadet. Man hatte einen beträchtlichen Teil des hauptsächlich weiblichen Publikums an den Fernseher verloren, das nun Unterhaltungsformate, bekannte Yeșilçam-Filme oder den türkisch synchronisierten Fernsehkrimi The Fugitive in häuslicher Atmosphäre konsumieren konnte. Hinzu kommt, dass sich die politischen Unruhen und eine gesellschaftliche Polarisierung zwischen dem rechten und linken Lager, die sich teilweise in blutigen Strassenkämpfen entluden und 1971 zum Eingreifen des Militärs mittels eines Memorandums geführt hatten, auf den Strassen der Türkei immer noch latent bemerkbar machten, sodass viele die häusliche Umgebung vorzogen. Das Kino verlor zunehmend an Bedeutung.

Das Schicksal des türkischen Films änderte sich schlagartig, als italienische Sexkomödien in die türkischen Kinos kamen und besonders Homo Eroticus (Marco Vicario, I/FR 1971) mit überwältigendem Erfolg im Jahr 1974 anlief. Aufgeweckte Filmemacher erkannten hier das Potenzial, mit eigens produzierten Sexploitations auf die Krise zu reagieren. Mit Beș Tavuk Bir Horoz (Fünf Hühner, ein Hahn; Oksal Pekmezoǧlu, TRK 1974) wurde eine Woche nach Vorführung des italienischen Vorbilds das türkische Remake produziert und gab den Startschuss für den Beginn der Sexploitationwelle in der Türkei. Der Film handelt vom naiven Kazım, der aus einem anatolischen Dorf nach Istanbul immigriert und sich sehr bald aufgrund seiner sexuellen Überpotenz einen Namen unter den Damen der Istanbuler High Society macht. Spätestens mit der wenig später produzierten Komödie Civciv Çıkacak Kuș Çıkacak (Nazmi Özer, TRK 1975), die sich als echter Kassenschlager in den Kinos erwies, sollte die Karriere des Genres ihren unaufhaltbaren Lauf nehmen. Merkmale der Komödie, die richtungsweisend für die kommenden türkischen Sexploitations wurde und sich an globalen Vorbildern orientierte, sind eine verhältnismässig unbedeutende Narration, die Quantität von weiblichen und kaum bekleideten Darstellerinnen, die Abwicklung des Witzes über den männlichen Darsteller, ein teilweise derber Sprachgebrauch und amüsante Filmtitel.

Diese Sexkomödien, die auf den Werbeplakaten anfänglich nicht immer als solche gekennzeichnet waren, sollten sich besonders für Familien als Objekte skandalöser Erfahrungen erweisen. Nichtsahnend gingen sie am Nachmittag mit ihren Kindern ins Kino, um dann mitten im Film empört den Kinosaal zu verlassen: «Es müsste im Jahr 1975 gewesen sein», berichtet der damals 13-jährige Journalist Cihan Demirci: «Wir gingen mit meiner Mutter in die 11-Uhr-Vorstellung ins Nilgün-Kino, das zu der Zeit ein gewöhnliches Familienkino war und in dem Mütter mit ihren Kindern besonders die 11-Uhr-Vorstellung besuchten. Der Film hiess Hayret 17 […] und begann wie eine gewöhnliche Komödie. Doch dann dachten wir: Was geht da ab? Nackte Frauen waren da plötzlich auf der Leinwand und es war nicht klar, wessen Hand in wessen Hosentasche wanderte. Im Kinosaal wurde es plötzlich unruhig. Bülent Kayabaș [der Hauptdarsteller] warf eine der Darstellerinnen ins Bett. Im Kinosaal brach eine ernsthafte Panik aus. Die Mütter schrien, die Kinder auch. Mitten im Film verliessen die Familien das Kino.»1

Viele Filmschaffende haben zunächst versucht, sich der neuen Tendenz zu verweigern und alternative Wege zu gehen. Regisseur Çetin İnanç hingegen, der sich für keinen Trend zu schade war und der mit seiner 1982 gedrehten, trashigen Star Wars-Version Dünyayı Kurtaran Adam auch international zweifellos Kultstatus erreicht hat, beschreibt seine Bereitschaft, in diesem Genre aktiv zu werden, wie folgt: «Wir waren wie die Animierdame in einem schäbigen Nachtclub: Welcher Tisch auch rief, wir gingen hin! […] Waren gerade Abenteuerfilme gefragt? Dann drehten wir Abenteuerfilme. Waren Sexfilme gefragt? Dann drehten wir eben Sexfilme.»2 Melodramen, die in der Hochphase von Yeșilçam das Hauptgenre bildeten, waren in den 1970er-Jahren nur noch in Form von sogenannten Arabeskfilmen gefragt und viele der ehemals dominierenden Schauspieler_innen bekamen keine Aufträge mehr. Ediz Hun z. B. entschied sich nach seiner erfolgreichen zehnjährigen Schauspielkarriere im Yeilçam-Kino für ein Biologiestudium in Norwegen, als die Aufträge ausblieben. Auch der charismatische ‹bad guy› des türkischen Films, Önder Somer, weigerte sich, in den Sexploitations mitzuwirken, und übernahm stattdessen das Familiengeschäft im Grand Bazaar in Istanbul. Filme mit Topschauspielerinnen wie Türkan Șoray, die die langjährige Geliebte des wohlhabenden und einflussreichen Geschäftsmannes Rüçhan Adlı war und wahrscheinlich keine finanzielle Not fürchten musste, waren zwar immer noch relativ beliebt, spielten an den Kinokassen aber bestenfalls die Produktionskosten ein. Die starke Nachfrage nach Sexkomödien war gleichzeitig die Chance für solche, die in den sogenannten A-Filmen von Yeșilçam nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatten. Ehemalige Setmitarbeiter investierten in die Billigproduktionen und wurden so zu Produzenten, Kameramänner führten plötzlich Regie und ehemalige Nebendarsteller_innen oder Statist_innen witterten ihre Chance, nun zu Hauptdarsteller_innen zu avancieren.

Auf der Schwelle zur Pornografie

1976 ist das Jahr, in dem die Sexkomödien in der gesamten Filmproduktion der Türkei langsam Überhand nehmen und konkurrenzlos bleiben. Trotz einiger Ausnahmen artikulierte sich der Erotikeffekt in diesen Filmen allerdings noch grösstenteils über einen – auch auf sprachlicher Ebene – zwar enthemmten, doch insgesamt verhaltenen Umgang mit Sexualität. Die Verlegenheit im Umgang mit der Thematik wurde unter anderem durch den komödiantischen (Körper-)Einsatz der wenig attraktiven Kultdarsteller Mete İnselel und Aydemir Akbaș zu überwinden versucht, die zu den begehrten Akteuren dieser Ära zählen.

Waren die Jahre 1974–1976 gewissermassen ein turbulentes Vorspiel, so nehmen die Produktionen ab 1977 äusserst pikante Ausmasse an. Das überwiegend männliche Publikum gibt sich nicht mehr mit harmlosen Sexkomödien zufrieden und verlangt nach mehr. Die Zensurbehörde bringt die türkischen Filmschaffenden mit ihren überkommenen Auflagen jedoch weiterhin um den Schlaf und auch die Schauspieler_innen sind noch nicht bereit, über die Darstellung ihrer Nacktheit und die zeitweilige Simulation des Geschlechtsaktes hinauszugehen. Die Lösung für die Kinobetreiber und Produzenten besteht in der Montage von sogenannten Blocksexszenen und wenig später den «döșeme»-Szenen.3 Im ersten Fall handelt es sich um drei- bis fünf-, manchmal zehnminütige Hardcoreszenen, die aus überwiegend deutschen und französischen Pornofilmen einfach herausgeschnitten wurden und in den Kinos vor Ort zum Einsatz kamen. Hierfür wurde der laufende Streifen während der Vorführung mehrfach unterbrochen und die Hardcoreszenen zusammenhanglos eingeblendet. Gerade zu Beginn dieser Praxis kam es vor, dass einige ahnungslose Zuschauer vor Empörung das Kino verliessen, da sie nicht mit einem Pornofilm gerechnet hatten. In einigen Kinos mit ausschliesslich männlichen Zuschauern folgte die Ankündigung dieser Szenen durch den Platzanweiser, der das an der Filmnarration meistens uninteressierte und zum Lustgewinn anwesende Publikum mit den Worten: «șanzıman kommt, nehmt alle eure Plätze ein und macht euch bereit» animierte. Das Codewort «șanzıman» bedeutet übersetzt das «Fahrgetriebe». Im zweiten Fall, den «döșeme»-Szenen, wurden bei der Montage per Splitscreen in der einen Hälfte des Bildes der simulierte Geschlechtsakt made in Turkey gesetzt und in der anderen Hälfte Hardcoreszenen aus fremden Pornos. Die Made in Turkey-Sequenzen hatten hier bereits den Charakter von Softcores erreicht. Oft wurden Hardcoreszenen auch mit türkischen Prostituierten und Komparsen gedreht und in die Filme einmontiert. Da jeder Film von der Zensurbehörde genehmigt werden musste, wurde zunächst eine relativ «harmlose» Fassung des Films ohne Sexszenen gesendet, und erst nach erfolgreicher Freigabe wurden diese einmontiert. Eine Kuriosität lässt sich auch in der Praxis erkennen, dass man häufig Szenen aus den türkischen Sexploitations der Vorjahre wiederverwendete und sie mit einigen neu abgedrehten Szenen und den montierten Hardcoresequenzen als völlig neuen Film vermarktete. Die Schauspielerin Zafir Seba erinnert sich, dass sie nie mit ihren Kolleginnen Zerrin Egeliler und Dilber Ay in einem Film gespielt habe und ziemlich überrascht gewesen sei, als sie eines Tages alle drei gemeinsam auf einem Filmplakat zu sehen gewesen seien.

Spezialisiert auf die Vorführung von Sexfilmen, sollte sich das stets überfüllte Güneș-Kino bald als Kultkino und als Ort potenzieller Gelegenheiten für Homosexuelle etablieren. Ein damals 18-jähriger Zuschauer erzählt: «Die Sitze waren in einem fürchterlichen Zustand. Onanie wurde während einer Filmvorführung zur Gewohnheit, sodass die Sitze und der Boden klebrig waren. [...] Ein Freund warnte mich davor, während der Vorführung auf die Toilette zu gehen. Einmal tat ich es und verstand, warum. Homosexuelle warteten auf der Toilette bereitwillig auf jene, die nach den Blockszenen zum Onanieren auf die Toilette gingen [und in Bereitschaft für mehr waren].»4 In einigen weniger «schmuddeligen» Kinos in den Istanbuler Stadtteilen Beyoǧlu oder Beșiktaș waren in den Publikumsreihen teilweise auch weibliche Zuschauerinnen vertreten, die allerdings in Begleitung ihrer männlichen Mitschüler – als Schulclique – oder mit ihren Ehemännern diese Filme sahen.

Von insgesamt 195 Filmproduktionen im Jahr 1979 waren 131 Sexfilme. Doch nur vier davon waren veritable Pornofilme. Der erste, in dem nicht namenlose Statisten oder Prostituierte, sondern ein weiblicher Filmstar mit einer Hardcoreszene zu sehen ist, trägt den Titel Öyle Bir Kadın Ki (Naki Yurter, TRK 1979) mit Zerrin Doǧan in der Hauptrolle. Aufgrund zahlreicher Beschwerden über die «Pornografisierung» des türkischen Films und der türkischen Gesellschaft wurde versucht, dem mit Razzien und der Konfiszierung dieser Filme in den Kinos zu begegnen.

Politische Instabilität, Inflation und Auslandsverschuldung, eine tiefe soziopolitische Spaltung zwischen den rechten «Grauen Wölfen» und dem linken Lager, die sich unter anderem in blutigen Auseinandersetzungen auf den Strassen bemerkbar machte, bestimmten das gesellschaftspolitische Klima in der Türkei besonders Ende der 1970er-Jahre. Um das links-kommunistische Gedankengut zu unterbinden und den Anschluss der Türkei an die Weltwirtschaft zu gewährleisten, setzte das Militär im September 1980 das Parlament ausser Kraft und übernahm bis 1983 die Macht. Mit diesem Militärputsch fand die Ära der Sexfilmwelle ein radikales Ende: Die Filme wurden verboten, erlebten aber durch die Videokassettenkultur in den 1980er-Jahren ihr Revival im Untergrund. Durch die zunehmende Wirkungslosigkeit der Filmzensur entstanden ab den 1980er-Jahren vermehrt sozialkritische (Frauen-)Filme mit erotischen Inhalten. Das klassische Yeșilçam-Kino aber, das seine Überlebensdauer dank der Überproduktion von Sexfilmen bis 1980 verlängern konnte und sich danach mit dem Genre des Arabeskfilms über Wasser zu halten versuchte, war ab 1990 endgültig dem Untergang geweiht.

«Wir wurden wie Aussätzige behandelt»

In den Sexploitations bis 1976 waren grösstenteils Schauspielerinnen wie Mine Mutlu, Feri Cansel oder Alev Altın engagiert, die bereits in klassischen Yeșilçam-Filmen entweder in unbedeutenden Hauptrollen oder Nebenrollen Berühmtheit erlangt hatten. Die Zurschaustellung ihrer nackten Körper und die blosse Mitwirkung in diesem Genre reichten in einer überwiegend türkisch-muslimischen Gesellschaft zur Stigmatisierung der Akteurinnen aus. «Wir wurden wie Aussätzige behandelt», sagt Zerrin Doǧan später in einem Interview. Als sich Alev Altın – die nur zwei ihrer Filme gesehen und sich dabei geschämt habe – bei ihren ersten Nacktaufnahmen vor der Kamera zierte und sich das Ausziehen vor der Kamera deswegen hingezogen habe, habe sie vom Regisseur einen Schlag auf die Nase bekommen, dessen Narbenspuren immer noch sichtbar seien.5 Eine der Superstars dieser ersten Phase war Arzu Okay. Mit 15 Jahren wirkte sie Anfang 1970 noch in einigen Yeșilçam-Melodramen mit, stieg mit 17 Jahren auf Anraten der Produzenten in die finanziell vermeintlich lukrative Sexfilmwelle ein und drehte um die 110 Filme, bis sie sich mit 23 Jahren entschloss, aus dem Filmgeschäft auszusteigen und in Paris in der Textilbranche neu zu beginnen. Sie gehört zu den wenigen Schauspielerinnen dieser Ära, denen der Ausstieg mit einer beruflichen Neuorientierung gelungen ist. Über ihre Zeit beim Erotikfilm sagte sie später in einem Fernsehinterview: «Ich ging damals zum Psychologen und hatte einen Nervenzusammenbruch. Es gab Momente, in denen ich an Selbstmord dachte.»6 Um nicht erkannt und angestarrt zu werden, habe sie sich in Restaurants, selbst am Bosporus, so hingesetzt, dass sie gegenüber der Wand sass, um die Blicke der Menschen nicht ertragen zu müssen. Die Schauspielerin Seher Șeniz, die als Stripteasetänzerin in Nachtclubs entdeckt worden war, beging 1992 mit nur 44 Jahren Selbstmord, da sie trotz mehrerer Neuanfänge mit ihrem Image als Sexstar nicht mehr leben konnte. Ab 1977/78, als die Sexploitations der Vorjahre die Schwelle der Harmlosigkeit überschritten hatten, standen die Schauspieler_innen unter noch höherem Druck. Sie wussten während des Drehs nicht, welche Kameraeinstellung welche Wirkung hervorrief und was durch die Montage aus den eigentlich harmlosen Komödien gemacht wurde. Sei es aufgrund der schnellen Produktionspraxis, aus Schamhaftigkeit oder aus einer vorsorglichen Rehabilitationslogik: Gemäss den Selbstbekenntnissen der Schauspielerinnen scheint kaum eine von ihnen ins Kino gegangen zu sein, um sich das Ergebnis anzusehen. Viele hätten erst später mitbekommen, was die Produzenten, Regisseure und Kinobetreiber aus den Filmen gemacht hätten. Selbst Zerrin Doǧan, die ähnlich wie Zafir Seba Betroffenheitslyrik vermeidet (schliesslich sei niemand gezwungen worden, in den Filmen mitzuspielen), musste die Instrumentalisierung der Darsteller_innen durch die anschliessende Montageleistung eingestehen.

Viele Schauspielerinnen wie Karaca Kaan oder Necla Fide waren um die 17 Jahre alt, als sie für diese Filme gecastet wurden, wahrscheinlich Geld brauchten und berühmt werden wollten. Teilweise geschah die Akquise der Schauspielerinnen in Bordellen oder drittklassigen Nachtclubs, wo die meisten von ihnen ab 1980 wieder landeten. Mit dem Versprechen, «lockerer zu werden», benebelten viele Regisseure besonders die noch namenlosen Akteurinnen am Set mit Cognac, Whiskey und Drogen so stark, dass viele gar nicht merkten, dass sie im wahrsten Sinne die Hauptrolle inmitten eines pornografischen Aktes spielten.7 Funda Gürkan gehört zu denen, die in dieser Zeit heroinabhängig wurden und von den Drogen nicht mehr loskamen, selbst als die Filmphase endete: Mit 36 Jahren starb sie 1989 an einer Überdosis. Zerrin Egeliler, die mit ihrer kurvigen Figur eine Projektionsfläche für den Inbegriff der anatolischen Frau bot und mit 37 Filmen im Jahr 1979 zu den ultimativen Stars dieser Ära zählt, habe ihren Körper nie gemocht und sich anschliessend vor Nacktheit und dem Geschlechtsakt selbst geekelt. Bezüglich der eigenen Sexualität sprechen auch andere Schauspielerinnen wie Dilber Ay von posttraumatischen Konsequenzen, die sie aus dieser Ära langhaltig davontrugen.

Männliche Darsteller wie Kazım Kartal gaben nach langer Zeit der Weigerung ihren Widerstand auf und spielten aufgrund hoher Schulden und beruflicher Alternativlosigkeit widerwillig in diesen Filmen mit. Die Theaterschauspieler Ali Poyrazoǧlu und Hadi Çaman hörten in dem Moment auf, als die Sexkomödien ab 1978 ihre Unschuld endgültig verloren hatten. Bülent Kayabaș und Aydemir Akbaș hingegen blieben dem Genre bis zum bitteren Ende treu. Allerdings ging es für die männlichen Darsteller nach 1980 beruflich wie gewohnt weiter, ohne dass sie als Sexstars stigmatisiert worden oder die Rollenangebote ausgeblieben wären, wie es bei den weiblichen Kolleginnen grösstenteils der Fall war.

Symptome der Verdrängung

Die türkische Sexploitationwelle war eine Phase des Skandals ohne Lust am Skandal. Als unumgängliche Reaktion auf die Krise des türkischen Kinos und völlig ohne Vorwarnung begann diese Welle in den 1970er-Jahren über die türkische Bevölkerung und die türkischen Filmschaffenden hereinzubrechen. Die Verstrickung des Sexthemas als eine gesellschaftlich tabuisierte, mit Scham behaftete Angelegenheit in einer politisch zwar säkularen, aber muslimischen Türkei mit dem Kino als öffentlichem Betätigungsfeld führte zum skandalisierten Diskurs in der damaligen türkischen Gesellschaft. Denn während einige Filmschaffende den didaktischen Gehalt der Filme und ihr Aufklärungspotenzial für die männliche Bevölkerung der 1970er-Jahre hervorheben, haben viele Regisseure und Darsteller_innen ihre Mitwirkung und Beteiligung an dieser Ära lange Zeit geleugnet oder relativiert. Selbst der türkische Filmhistoriker Alim Șerif Onaran hat, so einige Quellen, in seinem Werk zur Geschichte des türkischen Films komplett verschwiegen, dass der Regisseur Ülkü Erakalın zwischen 1976 und 1980 vierzig pornografische Filme gedreht hat. Stattdessen schreibt Onaran, dass Erakalın ab 1976 pausiert und das Filmemachen erst ab 1980 wieder aufgenommen habe.8 Obwohl der Schauspieler Aydemir Akbaș seine Besetzung in diesen Filmen nicht geleugnet hat, scheint auch er nachträglich um Schadensbegrenzung bemüht, wenn er kategorisch versichert, nie seine (Unter-)Hose ausgezogen oder Sexszenen gedreht zu haben.9 Vielleicht trifft das auf den Grossteil seiner Filme zu, doch schon in den ersten Minuten der Komödie Haydar (Günay Kosova, TRK 1978) ist bei ihm und der Schauspielerin Funda Gürkan in einer längeren Softcore-Einstellung eindeutig das Gegenteil der Fall.

Zensurbehörde und «Sittenwächter» brachten die Filmschaffenden dazu, mit aussergewöhnlichen Methoden zu operieren, um das hauptsächlich männliche Publikum in die Kinos zu locken. Ob finanziell, in der beruflichen Postphase ab 1980 oder aufgrund der Backstage-Bedingungen: Die Verlierer dieser Ära waren besonders die Schauspielerinnen jener Filme. Sie konnten als die weiblichen Stars dieser gesellschaftlich tabuisierten Filme weder Bejahung noch Akzeptanz durch die Gesellschaft erwarten und litten unter der öffentlichen Stigmatisierung und dem Image als Sexstar, was sie in dieser radikalen Form gar nicht sein wollten. Ein Image, das nur ihnen anhaftete, aber nicht den Regisseuren, Produzenten oder männlichen Darstellern. Auch empfanden viele Darstellerinnen das Image des Sexstars frustrierend, da es den weiblichen Stars der 1980er-Jahre wie Hülya Avșar oder Müjde Ar nicht anhaftete und deren Filme zu Kunstfilmen erhoben wurden, obwohl auch diese erotischen Inhalts gewesen seien: «Wenn wir uns auszogen, waren wir die Huren. Wenn sie sich auszogen, waren sie die Künstlerinnen», lautet die zynisch-ernüchterte Diagnose von Zerrin Doǧan.10

Die Vorstellung, dass die Tabuisierung und Stigmatisierung von sichtbarer weiblicher Sexualität ein überholtes Relikt aus den 1970er-Jahren ist, täuscht. Slutshaming angesichts freizügig bekleideter Frauen und vermehrte Vorfälle von Femiziden sind auch heute noch in einer von der islamisch-konservativen AKP-Partei regierten Türkei an der Tagesordnung. Solange Sexualität in patriarchal-muslimischen Gesellschaften vorzugsweise über die Rolle der Frau abgehandelt wird, die Subversion von klassischen Geschlechterrollen in der medialen Repräsentation nicht wirklich stattfindet und die sexuelle Befreiung der Frau noch lange nicht am Ziel ist, so lange wird es eine Stigmatisierung von sexuell selbstbestimmten muslimischen Frauen geben.

Cihan Demirci, Araya Parça Giren Yıllar. Türk Sinemasında 1974–1980 Seks Filmleri Dönemi ve o Dönemden Bugüne…, Istanbul 2004, S. 35 f. Hier und im Folgenden handelt es sich um meine eigenen Übersetzungen.

Pinar Öǧünç, Jet Rejisör Çetin İnanç, Istanbul 2016, S. 105.

Agǎh Özgüç: Türk Sinemasında Cinselliǧin Tarihi, Istanbul 2000, S. 179 f.

Demirci (wie Anm. 1), S. 195 f.

Vgl. Demirci (wie Anm. 1), S. 53.

Bir Yudum I˙nsan – Arzu Okay (Nebil Özgentürk, TRK 1998).

Vgl. Demirci (wie Anm. 1), S. 86.

Vgl. ebd., S. 41.

Siyahperde – Türk Sinemasında Sansürün Tarihi (Behiç Ak, TRK 1994).

Demirci (wie Anm. 1), S. 69.

Aysel Özdilek
*1984, Studium der Turkologie, Erziehungswissenschaft und Evangelischen Theologie in Hamburg. Derzeit promoviert sie an der Universität Hamburg zu zeitgenössischen türkischen Primetime-Soaps. Ihre hauptsächlichen Interessensgebiete liegen in der Geschichte des türkischen Films und der türkischen Populär- und Serienkultur.
(Stand: 2021)
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