CHRISTIAN ALEXIUS

ANGRIFF DER SKORPIONE — L’ÂGE D’OR VON LUIS BUÑUEL UND SALVADOR DALÍ

ESSAY

Aus nichtigem Grund erschiesst ein Vater seinen Sohn mit einem Jagdgewehr. Zuvor hatte der Junge ihm zum Scherz die Zigarette aus der Hand geschlagen, was der Wildhüter gleich mit zwei Schüssen quittiert – den zweiten auf seinen Sohn abfeuernd, als dieser bereits niedergestreckt auf dem Boden liegt. Keinerlei Zeichen der Reue lassen sich in seinem Gesicht ausmachen und auch die abendliche Gesellschaft am Hof des Marquis von X, auf dessen Anwesen sich der Vorfall ereignet, zeigt sich unbeeindruckt vom Tod des Jungen durch seines Vaters Hand. Es sind Szenen wie diese, die L’âge d’or (Das goldene Zeitalter, FR 1930) von Luis Buñuel und Salvador Dalí zu einem der grössten Aufreger und Skandalfilme in der Geschichte des Kinos haben werden lassen. Nur wenige Tage nach seiner ersten öffentlichen Aufführung Ende November 1930 wurde der Kinosaal des Studio 28 am 3. Dezember im Montmartre während einer Vorführung des Films gestürmt. Von militanten Rechten und Antisemiten der Ligues des Patriotes und Ligue Anti-Juive, für die er einen Angriff auf all das darstellte, was ihnen heilig war: Religion, Familie, Vaterland. Sie bewarfen die Leinwand mit Tinte, zündeten Rauchbomben, um die Zuschauer_innen aus dem Kinosaal zu vertreiben, und zerstörten eine Ausstellung surrealistischer Gemälde im Foyer des Kinos. Der Vorfall machte L’âge d’or zu einem Politikum und liess ihm eine erhöhte Aufmerksamkeit in der französischen Presse zukommen, bis er weniger als 14 Tage später schliesslich von der Zensur verboten und die Beschlagnahmung aller existierender Kopien des Films angeordnet wurde. Begründung: Es handle sich um kommunistische Propaganda.

Es sind nur wenige Filme, die André Breton und Paul Éluard in ihrem Dictionnaire Abrégé du Surréalisme 1938 als die bedeutendsten Erzeugnisse der Bewegung anführen: Emak-Bakia (FR 1926) und L’étoile de mer (FR 1928) von Man Ray, Anémic cinéma (FR 1925) von Marcel Duchamp, La perle (BE 1929) von Georges Hugnet sowie Un chien andalou (Ein andalusischer Hund, FR 1929) und L’âge d’or von den beiden bereits genannten Luis Buñuel und Salvador Dalí.1 Versammelt werden hier nur Filme von Regisseuren, die bekennende Surrealisten waren oder zumindest in Verbindung mit der Bewegung standen. Gruppenzugehörigkeit alleine macht einen Film allerdings noch nicht per se surrealistisch, und so enthält die Liste auch einige Streitfälle, an denen sich bis heute die Diskussion darüber entzündet, was Surrealismus im Film ist und was nicht. Die Filme von Man Ray beispielsweise werden häufig eher dem Dadaismus zugeordnet und fanden bei ihrem Erscheinen kaum Beachtung vonseiten der Surrealisten. Wie andere im Dictionnaire genannten Filme werden sie vermutlich nur angeführt, um die filmische Lücke zu schliessen, die ansonsten zwischen dem Erscheinen des ersten surrealistischen Manifests (1924) und der Premiere von Un chien andalou klafft – dem ersten Film, der von den Pariser Surrealisten um ihren Wortführer Breton als wahrlich surrealistisch gefeiert wurde. La coquille et le clergyman (FR 1928) dahingegen, der im wissenschaftlichen Diskurs mittlerweile häufig als erster surrealistischer Film gilt, wird von Breton und Éluard nicht aufgeführt. Das Drehbuch zu diesem stammt mit Antonin Artaud zwar von einem Mitbegründer der Pariser Gruppe, die Inszenierung durch die Impressionistin Germaine Dulac wurde seinen eigenen Erwartungen und denen der Surrealisten allerdings nicht gerecht. Zu leicht liess sich das Gezeigte schlicht als Traum seiner Hauptfigur abtun, und auch Artauds Vorstellung von einem durch Schocks für die Augen des Publikums geprägten Film fand sich in ihm nicht wieder. Erwähnung findet La coquille et le clergyman im Dictionnaire aber auch deswegen nicht, weil Artaud im Laufe der Zeit, wie so viele andere Mitglieder auch, exkommuniziert und von der Gruppe ausgeschlossen wurde. Generell machen es die häufigen Wechsel zwischen den unterschiedlichen Avantgardebewegungen und Künstlergruppen der Zeit schwierig, Filme allein aufgrund der Angehörigkeit ihrer Regisseur_innen oder anderer an der Produktion beteiligter Personen einer bestimmten Bewegung zuzuordnen. Die Schwierigkeiten bei der Klassifizierung dieser Filme rühren vor allem aber daher, dass es bis zum Erscheinen von Un chien andalou keine einheitliche Vorstellung innerhalb der Gruppe davon gab, wie ein surrealistischer Film auszusehen habe und wie sich das Medium am besten für ihre Zwecke nutzen liess.

Film als bewusste Halluzination

Was die Gruppe der Surrealisten allerdings von Beginn an eint, ist die Begeisterung für das Kino und den Film, wobei sie vor allem als leidenschaftliche Kinogänger und Filmtheoretiker hervortreten. So beschreibt André Breton etwa, wie er zusammen mit Jacques Vaché von einem Lichtspielhaus zum anderen wandert, wahllos Karten für Vorstellungen kauft, ohne sich vorab über die dort gezeigten Filme zu informieren, deren Vorführungen an einem beliebigen Punkt betritt und beim ersten Anzeichen von Langeweile direkt wieder verlässt, um sich zum nächsten Film aufzumachen und so weiter. In den Köpfen der beiden entstand so ein ganz neuer Film, zusammengesetzt aus den Eindrücken, die sie auf diese Weise in den Kinos gesammelt hatten.2 Sie erfreuten sich daran, surrealistische Momente in kommerziellen Filmproduktionen wie Louis Feuillades fünfteiliger Fantômas-Reihe (FR 1913–1914), den Komödien von Charles Chaplin und Buster Keaton oder den Abenteuerfilmen mit Douglas Fairbanks sen. in der Hauptrolle aufzuspüren, und bringen selbst eine ganze Reihe filmtheoretischer Schriften und Kritiken hervor. Im Kino sahen sie ein surrealistisches Potenzial verborgen, betonten häufig gar, dass der Film das dem Surrealismus angemessenste Medium sei. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass sie in der Rezeptionssituation eines Films Ähnlichkeiten zur Erfahrung des Traums ausmachten. Für die Surrealisten kommt dem Traum eine ganz wesentliche Rolle zu, da sie die Aufhebung der strikten Trennung zwischen Realität und Traum anstrebten, um zu einer neuen, absoluten Form der Realität, namentlich der ‹Surrealität›, zu gelangen. Gefordert wird von den Surrealisten kurz gesagt eine Absage an die «Herrschaft der Logik»3, der sie die Aktivierung des Unbewussten und eben den Glauben an die «Allmacht des Traumes»4 entgegensetzen. Zentral für ihre Analogie zwischen Film und Traum ist dabei der abgedunkelte Kinosaal, der es uns als Zuschauer_innen ermögliche, im Wachzustand etwas Traumähnliches zu erleben, und so einen Zugang zum eigenen Unterbewusstsein schaffe. Jean Goudal spricht in seinem Aufsatz Surréalisme et Cinéma (1925) vom Film daher auch als einer bewussten Halluzination.5

Warum dauert es aber trotz der bestehenden Faszination für das Kino so lange, bis mit Un chien andalou das erste für die Gruppe authentische Zeugnis des Surrealismus im Film entsteht? Dies liegt insbesondere daran, dass die zeitaufwendigen und detailreichen Planungen, die mit der Produktion eines Films einhergehen – an welchen Orten wird gedreht, wo wird die Kamera aufgestellt, welchen Bildausschnitt soll sie aufnehmen etc. –, im kompletten Gegensatz zu den von den Surrealisten bevorzugten Arbeitsmethoden stehen, die genau diese Form der Planung und Intention auszuschalten versuchen. Dies wird bereits mit Blick auf eine Kurzdefinition der Bewegung aus dem ersten Manifest von Breton deutlich: «Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.»6 In der ersten Hälfte der 1920er-Jahre beschränkte die Gruppe sich daher noch auf das Verfassen von Drehbüchern, von denen sie von vorneherein schon wusste, dass ihre filmische Umsetzung nicht möglich war.

Im Dienst der Revolution

Es ist der Schnitt durch das Auge einer jungen Frau, der Un chien andalou eröffnet und bis heute das berühmteste Schockbild des Films darstellt – ein Film, dessen Bilder nach Aussage von Buñuel und Dalí keine Bedeutung vermitteln wollen und deren Anordnung keinerlei Sinn transportieren soll. Und doch laden sie geradezu zu Interpretationen ein, und so kann der Schnitt durch das Auge symptomatisch für das stehen, was in den darauffolgenden insgesamt 16 Minuten kommen wird: ein Angriff auf die Wahrnehmung der Zuschauerin, eine Attacke auf etablierte Sehgewohnheiten und damit die Konventionen des narrativen Films. Un chien andalou verbindet Einstellungen assoziativ miteinander, überblendet von der Detailaufnahme einer mit Ameisen übersäten Hand auf die Achselhaare einer Frau, um schliesslich auf einem Seeigel zu enden; sprengt das raumzeitliche Kontinuum, wenn er seine Protagonistin durch eine Tür in ihrer Wohnung direkt an einen Strand gelangen lässt; zersetzt den menschlichen Körper, wie es der bereits erwähnte Angriff auf das menschliche Sehorgan deutlich macht. Zentral für den Film ist neben seinen Verstössen gegen Normen und Regeln des Erzählkinos die Arbeit mit solchen Schockbildern – wie Artaud sie bereits gefordert hatte –, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Der Film wurde ganz im Sinne der Surrealisten zu einem der grossen Aufreger in der Geschichte des Mediums, gleichzeitig aber auch von der zeitgenössischen Kritik begeistert aufgenommen und für seine poetische Ausdruckskraft gefeiert. Infolgedessen wurde Un chien andalou zu einem kommerziellen Erfolg und blieb acht Monate lang im Programm des Studio 28, und das obwohl, oder vielleicht gerade weil sein Verbot immer wieder gefordert wurde. Eine Provokation stellte der Film also durchaus dar, löste allerdings nicht den handfesten Skandal aus, den die Gruppe sich erhofft hatte. Dazu gilt es zu wissen, dass der Surrealismus sich mitnichten nur als ein künstlerisches Programm verstand. Immer wohnt ihm ein revolutionärer Impetus inne, der sich gegen die bürgerliche Ordnung richtet und eine radikale Umwälzung der Gesellschaft anstrebt. Buñuel erinnert sich in seiner Autobiografie:

Für die Surrealisten, die sich nicht als Terroristen, als bewaffnete Aktivisten betrachteten, war die Hauptwaffe im Kampf gegen die ihnen verhasste Gesellschaft der Skandal. Er erschien ihnen lange Zeit als das wirksamste Mittel, um die soziale Ungleichheit, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, den verdummenden Zugriff der Religion, den plumpen kolonialistischen Militarismus zu entlarven und die geheimen, widerwärtigen Triebfedern des zu stürzenden Systems aufzudecken. […] Das eigentliche Ziel des Surrealismus war nicht, eine literarische Bewegung ins Leben zu rufen, auch keine neue Malerei, nicht einmal eine neue Philosophie, sondern die Gesellschaft hochgehen zu lassen, das Leben zu ändern.7

Wie genau die Surrealisten allerdings über den Bereich des rein geistigen und moralischen Widerstands hinaus politisch und sozial aktiv werden sollten, stellte von Beginn an einen Streitpunkt innerhalb der Gruppe dar. Um zu demonstrieren, dass sie die tatkräftige Aktion nicht scheuten, traten führende Mitglieder wie Breton und Louis Aragon Mitte der 1920er-Jahre der Kommunistischen Partei Frankreichs bei – ein aufrichtiger, wenn auch rein symbolischer Akt, da sie sich nicht als politische Kämpfer verstanden. Für die Kommunistische Partei hegte die Gruppe Sympathien, da sie in ihren Augen die einzige politische Bewegung der Zeit darstellte, die sich wahrlich revolutionär nennen konnte. Der Beitritt einiger ihrer Mitglieder zur KPF führte zugleich jedoch zu neuen Unruhen innerhalb der Gruppe: Sollte sie weiterhin ihre Autonomie behaupten oder sich vollständig der Partei unterstellen? Der von Breton anvisierte Mittelweg einer Koexistenz, dem unabhängigen surrealistischen Streben hin zur selben Revolution, die gleichzeitig auch die Kommunisten mit ihren Mitteln herbeiführen wollten, stellte für beide Lager letztlich keine befriedigende Lösung dar.

Das Jahr 1930 markiert dann nicht nur für die Surrealisten eine Zäsur, da unterschiedliche Krisen in Europa und den USA das Ende der Nachkriegszeit einläuten. Im selben Jahr veröffentlicht Breton das zweite Manifest der Bewegung, in dem er den Standpunkt des Surrealismus neu definiert und neben der künstlerischen Auflehnung nun auch eine klare politische Entschiedenheit gegen die bestehende Gesellschaftsordnung fordert. Es sei das Ziel der Bewegung, «in intellektueller und moralischer Hinsicht eine ‹Bewusstseinskrise› allgemeinster und schwerwiegendster Art auszulösen».8 Alles müsse getan werden, «um die Ideale ‹Familie, Vaterland, Religion› zu zerschlagen».9 Im selben Jahr benennen die Surrealisten La Révolution surréaliste, die Zeitschrift ihrer Bewegung, in Le Surréalisme au service de la Révolution um. Der neue Name macht klar, dass es der Gruppe nicht mehr zuallererst um eine eigenständige, surrealistische Revolution geht. Deutlich wird dies auch in einem in der ersten Ausgabe veröffentlichen Telegrammwechsel mit Moskau, in dem die Gruppe verkündet, der Revolution ab jetzt zur Verfügung zu stehen.10 Der ebenfalls im gleichen Jahr erschienene L’âge d’or fällt somit in die angriffslustigste und kühnste Phase der Surrealisten, die sich neben der Erforschung des Unbewussten nun verstärkt der politischen Revolution widmen. Entsprechend verdichtet der Film all das, wofür die Gruppe zu diesem Zeitpunkt steht, und beschert ihr endlich den herbeigesehnten Skandal.

Thematisch kreist L’âge d’or wie schon Un chien andalou über weite Strecken um einen Mann, der sich körperlich nach einer Frau verzehrt und dem sich dabei eine ganze Reihe von Hindernissen in den Weg stellen. Von Bedeutung ist hierbei das Motiv der Amour fou, der ‹wahnsinnigen Liebe› über alle gesellschaftlichen Konventionen hinweg, der die Surrealisten eine besondere Bedeutung beimassen. Im Gegensatz zur romantischen Liebe zeichnete sie sich für die Gruppe durch ein revolutionäres Potenzial aus und stellte somit ein wesentliches Mittel zur Zerschlagung der bestehenden Ordnung dar. Deutlich wird ihre aufrührerische Kraft gleich bei der Einführung der beiden Hauptfiguren, die im Laufe des Films eine sexuelle Vereinigung anstreben, die ihnen allerdings nicht vergönnt sein wird: Sich lustvoll gemeinsam im Schlamm suhlend, stört die Frau mit ihren ekstatischen Ausrufen die feierliche Legung eines Grundsteins, woraufhin das Paar strikt voneinander separiert wird. Erst nach einem mehrere Jahrhunderte überbrückenden Zeitsprung in die daraus hervorgegangene Metropole Roms des Jahres 1930 (bei der es sich in Wirklichkeit um Paris handelt) wird der Mann sich von seinen beiden Bewachern durch das Vorzeigen eines Dokuments befreien können, das ihn als hochrangigen Beamten ausweist. Die implizite Kritik, dass in der öffentlichen Wahrnehmung der christlich-bürgerlichen Gesellschaft dem formellen Status eines Menschen eine höhere Bedeutung zukomme als seinem Verhalten, akzentuiert sich im Folgenden durch seine Attacke auf einen blinden Passanten, die keinerlei Restriktionen nach sich zieht. Hierin steckt ein weiterer Kritikpunkt: Die Gesellschaft unterdrückt das freie Ausleben der eigenen Sexualität, die daraufhin in Gewalt umschlägt – was bereits unmittelbar nach der Festnahme sichtbar wird, als der Mann einem kleinen Hund einen beherzten Tritt versetzt und voller Inbrunst einen Käfer zertrampelt.

Bleibt Un chien andalou noch auf der privaten, zwischenmenschlichen Ebene verortet, so geht die Amour fou in L’âge d’or darüber hinaus und nimmt gesamtgesellschaftliche Prozesse in den Blick. Damit einher gehen weitaus prägnantere und eindeutigere Angriffe auf Religion, Familie und Vaterland als noch im ersten Film, ganz so, wie Breton sie in seinem zweiten Manifest gefordert hatte: Auf der Insel, auf der sich die ersten Szenen des Films abspielen, ist eine Gruppe von Repräsentanten der katholischen Kirche zu sehen, von denen wenige Szenen später nur noch Skelette übrig sind, die die Insignien ihrer Religion am fleischlosen Körper tragen. Bereits eingangs geschildert wurde die Erschiessung eines Kindes durch den eigenen Vater, was die anwesende Bourgeoisie ebenso grosszügig ignoriert wie einen Pferdekarren, der von Bauern durch den Ballsaal geführt wird, oder das Dienstmädchen, das vergeblich versucht, sich vor dem ausbrechenden Feuer in der Küche in Sicherheit zu bringen. Erst eine Ohrfeige, die die Hauptfigur der Gastgeberin verpasst, sorgt bezeichnenderweise für Aufsehen unter den Gästen. Als Kondensat all dessen kann schliesslich die Szene gelten, in der der Protagonist voller Wut, dass seine Angebetete ihm letztlich einen anderen Mann vorzieht, eine ganze Reihe phallischer Gegenstände aus dem Fenster wirft, die noch einmal symbolisch für die unterschiedlichen Angriffsziele des Films stehen: Religion, Arbeit, Kolonialismus und Familie werden hier in Form eines Erzbischofs samt Mitra und Krummstab, eines Holzpflugs, der Statue einer Giraffe und eines brennenden Tannenbaums entsorgt. In ihrem symbolischen Gehalt verweist die Szene auf einen Moment aus Un chien andalou, in der sein Protagonist buchstäblich die Last der Gesellschaft mit sich herumtragen muss. Zu sehen ist dabei, wie er unter grosser körperlicher Anstrengung an Seilen zwei Klaviere aus dem Off des Bildes hervorzieht, auf denen die Kadaver zweier Esel vor sich hin verwesen und neben unterschiedlichem Strandgut auch noch zwei junge Priester hängen. Es fällt nicht schwer, die Szene als Kritik an Kultur (die Klaviere), körperlicher Arbeit (die Kadaver von Lasttieren) und Religion (die beiden Priester) zu lesen, welche die Freiheit des Individuums einschränken und sein mögliches Liebesglück verhindern. Bemerkenswert ist dann vor allem auch der an den Roman Les 120 Journées de Sodome ou L’Ecole du Libertinage (1785) des von den Surrealisten geschätzten Marquis de Sade angelehnte Epilog von L’âge d’or: Eine Christusfigur verlässt das Château de Selliny als einer der letzten Überlebenden einer 120-tägigen Orgie. Als doch noch eine Frau nach ihnen das Schloss verlassen will, kehrt er postwendend mit ihr dorthin zurück, um sein ‹Werk› zu vollenden. Kurz darauf schliesst der Film zu den Klängen des Paso doble «Gallito» mit dem Bild eines Kreuzes, an dem die Skalpe der toten Frauen aufgehängt worden sind.

Um seine Angriffe auf gesellschaftliche Institutionen so unmittelbar und unverhüllt wie möglich darzustellen, verzichtet der Film im Unterschied zu Un chien andalou weitestgehend auf tricktechnische Effekte wie Überblendungen oder Zeitlupen. Das Traumhafte weicht einem deutlich funktionaleren Stil, fast so, als wolle sich der Film, wie Robert Short anmerkt, einen dokumentarischen Anstrich und damit einhergehend eine grössere Glaubwürdigkeit verleihen.11 Dementsprechend beginnt L’âge d’or mit Ausschnitten aus einer Dokumentation von André Bayard über Skorpione, Le scorpion languedocien (FR 1912), in denen die Tiere sich gegenseitig attackieren und über eine eindringende Ratte hermachen. In ihrem aggressiven und heimtückischen Verhalten können sie damit symbolisch für den Menschen als auch den Film stehen. Die Einteilung des Letzteren in sechs Segmente wird dabei durch den sechsgliedrigen Schwanz des Skorpions vorweggenommen, der in einem Giftstachel endet. Analog dazu hebt sich L’âge d’or mit den Ereignissen im Château de Selliny seinen schärfsten Angriff bis ganz zum Schluss auf.12

In Bezug auf die oben beschriebenen Schockbilder lässt sich anhand der letzten Sequenz eine weitere zentrale Strategie des Films ausmachen. So wird viel Anstössiges lediglich impliziert und häufig erst durch die Montage mit anderen Bildern zum Ausdruck gebracht, wie im bereits erwähnten Schlussbild mit den Skalpen der Frauen am Kreuz. Von den zeitlich zuvor stattfindenden brutalen Vorkommnissen während der Orgie berichten dahingegen nur Zwischentitel. Wie schon in Un chien andalou werden Konventionen des narrativen Films zudem zitiert, nur um sie zu unterlaufen und ins Lächerliche zu ziehen. So ergeben etwa die in Buñuel und Dalís Erstlingswerk mittels Texttafeln wiederholt eingesetzten Zeitangaben wie «Es war einmal …» oder «Acht Jahre später» allesamt keinerlei Sinn. In L’âge d’or wird eine empathische Annäherung der Zuschauer_innen an den Protagonisten durch dessen gewalttätiges und impulsives Verhalten konsequent unterbunden. Insgesamt frustriert der Film, so Paul Hammond, sein Publikum genauso, wie seine Figuren sexuelle Frustration erfahren: «The theme of the film is frustration, the form of the film mirrors its theme.»13

Das fehlende Bindeglied

Produziert wurde L’âge d’or ironischerweise ausgerechnet von einem Vertreter der gesellschaftlichen Klasse, die am stärksten im Fokus seiner Angriffe stand. Der adlige Vicomte Charles de Noailles war ein Bewunderer von Un chien andalou und gab Buñuel den Auftrag zum Film, bei dem er ihm sämtliche künstlerischen Freiheiten überliess und sich ausschliesslich um dessen Finanzierung kümmerte. Der Vicomte und seine Frau fanden L’âge d’or nach Aussagen Buñuels dann zwar durchaus köstlich, hätten seine skandalöse Wirkung allerdings auch schnell am eigenen Leib erfahren: Nach einer privaten Vorführung des Films sei Charles de Noailles am darauffolgenden Tag der Einlass zu seinem Jockey-Club verweigert worden und seine Mutter habe gar beim Papst vorstellig werden müssen, um einer Exkommunikation zu entgehen. Nach den eingangs geschilderten Ausschreitungen und Protesten, die am 12. Dezember 1930 schliesslich zur Verkündung seines Verbots führten, dauerte es rund 50 Jahre, bis L’âge d’or in Frankreich wieder offiziell in den Kinos gezeigt werden durfte. Die Gruppe der Surrealisten stand dabei von Anfang an und auch angesichts des um sich greifenden Skandals hinter dem Film. In einem Manifest, das sie zur Premiere des Films in dessen Begleitheft veröffentlichten, bezeichnen sie ihn als unverzichtbare moralische Begleiterscheinung der Börsenhysterie, dessen Effekt gerade aufgrund seiner surrealistischen Natur unmittelbar sein werde.14 Von den Gegnern des Films wurde diese ‹surrealistische Natur› allerdings nicht begrüsst, brachten sie deren subversive Kraft doch mit dem in Verbindung, was sie eigentlich fürchteten: mit dem Kommunismus. Für dessen politische Ziele hegte die Gruppe – wie bereits erwähnt – durchaus Sympathien, dennoch war und ist L’âge d’or kein kommunistischer Film. Die zweite und letzte Zusammenarbeit von Buñuel und Dalí15 stellt stattdessen einen surrealistischen Aufruf zur Revolution dar, den radikalsten filmischen Ausdruck eines von den Surrealisten mit künstlerischen Mitteln geführten Kampfes gegen eine Gesellschaftsordnung, die sie verachteten.

Auf vergleichbare Weise beschreibt auch Hammond den Film als «maximale[n] Ausdruck» des Surrealismus, allerdings einem «bar jeden Echos». L’âge d’or stellt für ihn das «fehlende Bindeglied des filmischen Surrealismus»16 dar, da er aufgrund seines frühzeitigen Verbots ohne nachhaltige Wirkung blieb. Bis zu dessen Aufhebung im Jahr 1980 gab es nur wenige, heimliche Vorführungen des Films in cinephilen Kreisen; eine von Buñuel auf rund 20 Minuten gekürzte Fassung des Films von 1932 unter dem aus dem Kommunistischen Manifest entlehnten Titel Im eiskalten Wasser egoistischer Berechnung wurde ebenfalls verboten. Daran lässt sich symptomatisch die weitere Entwicklung des Surrealismus im Medium Film als auch des Surrealismus insgesamt ablesen: Überlebt haben die ästhetischen und unterhaltsamen Elemente der Bewegung, die ihn zu der bis heute populärsten Kunstströmung der Moderne machen, dies allerdings auf Kosten seiner ethischen und revolutionären Dimension.

Der einzig wahre Surrealist

Der Einzige, der nach der kurzen Blüte des surrealistischen Films als wahrlich surrealistischer Filmemacher gelten kann, ist Buñuel selbst, der sich der Bewegung bis zu seinem Tod 1983 eng verbunden fühlte und weiterhin Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung und ihren Grundpfeilern übte.17 Zwei weitere seiner Filme wurden ebenfalls Gegenstand eines Skandals und letztlich verboten: Sein dritter Film Las Hurdes (Land ohne Brot, ES 1933), eine Dokumentation über einen der ärmsten Landstriche Spaniens, die zusammen mit seinen ersten beiden Filmen häufig als surrealistische Trilogie zusammengefasst wird, erhielt keine Kinofreigabe; Viridiana (ES/MX 1961) bekam zwar die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes, nach Protesten des Vatikans wurde dem Film vonseiten des Franco-Regimes allerdings rückwirkend die Drehgenehmigung entzogen, was einem Aufführungsverbot gleichkam.

Im Gegensatz zu Vertreter_innen der American Avantgarde wie Maya Deren, Repräsentanten eines «neuen Surrealismus»18 der 1960er-Jahre um Ingmar Bergman oder Federico Fellini, sowie zeitgenössischen Filmschaffenden wie Alejandro Jodorowsky oder David Lynch hat sich Buñuel nie auf eine surrealistische Bildsprache, Montage oder vereinzelte Motive beschränkt, sondern ist den Idealen der Bewegung bis zu seinem letzten Film treu geblieben. Ganz gemäss der Aussage Bretons, wonach sich der Surrealismus einzig und alleine etwas von der Gewalt verspreche,19 lässt Buñuel in der finalen Einstellung von Cet obscur objet du désir (Dieses obskure Objekt der Begierde, FR/ES 1977) filmisch noch einmal Taten folgen, wenn er eine Pariser Einkaufspassage von linksradikalen Terroristen in die Luft sprengen lässt – und zusammen mit ihr den gesamten Bildkader.

Vgl. André Breton/Paul Éluard, Dictionnaire Abrégé du Surréalisme, Paris 1938, S. 12.

Vgl. André Breton, «As in a Wood», in: Paul Hammond (Hg.), The Shadow and Its Shadow: Surrealist Writings on the Cinema, 3. Auflage, San Francisco 2000, S. 72–77, hier: S. 72 f.

André Breton, «Erstes Manifest des Surrealismus (1924)», in: ders., Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 9–43, hier: S. 15.

Breton (wie Anm. 4), S. 27.

Vgl. Jean Goudal, «Surrealism and Cinema», in: Hammond (wie Anm. 2), S. 84–94, hier: S. 86 und 89.

Breton (wie Anm. 4), S. 26.

Luis Buñuel, Mein letzter Seufzer: Erinnerungen, Berlin 2004, S. 153 f.

André Breton, «Zweites Manifest des Surrealismus (1930)», in: ders. (wie Anm. 4), S. 49–99, hier: S. 55.

Breton (wie Anm. 8), S. 58.

Zu den politischen Debatten innerhalb der Gruppe der Surrealisten und ihrem Verhältnis zur Kommunistischen Partei vgl. Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 106 ff.

Vgl. Robert Short, «L’âge d’or», in: ders. (Hg.), The Age of Gold: Surrealist Cinema, Los Angeles 2008, S. 103–163, hier: S. 108.

Zur Anfangssequenz des Films vgl. Short (wie Anm. 11), S. 111 ff.

Paul Hammond, L’âge d’or, London 1997, S. 57.

Vgl. The Surrealist Group, «Manifesto of the Surrealist Group concerning L’âge d’or», in: Hammond (wie Anm. 2), S. 182–189, hier: S. 188.

Dalís Beteiligung an dem Film wurde lange Zeit kaum wahrgenommen. Dies liegt u. a. daran, dass er sich später selbst vehement von L’âge d’or distanziert hat und Buñuel ihm in seiner Autobiografie nur eine einzige Idee zuschreibt, die Eingang in den Film gefunden habe: Ein Mann läuft in einem Park mit einem Stein auf dem Kopf an einer Statue vorbei, die ebenfalls einen Stein auf dem Kopf trägt. Die schriftliche Korrespondenz zwischen den beiden macht allerdings deutlich, dass Dalí wesentlich involvierter in das Projekt war. Vgl. dazu Short (wie Anm. 11), S. 147–155.

Paul Hammond, «Filmischer Surrealismus: Seine Inkarnationen in Zeit und Raum, 1924–1939», in: Deutsches Filminstitut – DIF e.V./Deutsches Filmmuseum (Hg.), Bewusste Halluzinationen: Der filmische Surrealismus, München 2014, S. 34–41, hier: S. 37.

Zur Geschichte des filmischen Surrealismus nach L’âge d’or vgl. Robert Short, «Legacy: Surrealism and Cinema», in: ders. (wie Anm. 11), S. 175–188.

Thomas Koebner, «Psychoanalyse im Film/Psychiatrie im Film», in: ders. (Hg.), Reclams Sachlexikon des Films, 2. Auflage, Stuttgart 2007, S. 556–562, hier: S. 558.

Vgl. Breton (wie Anm. 8), S. 56.

Christian Alexius
*1992, Studium der Filmwissenschaft und Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo er zurzeit als Tutor für Filmgeschichte angestellt ist. Aktuelle Herausgeberschaft: Fantastisches in dunklen Sälen. Science-Fiction, Horror und Fantasy im jungen deutschen Film (Schüren 2018; zus. mit Sarah Beicht). Auf Sammler des Kinos setzt er sich mit dem Themenkomplex Cinephilie und Filmgeschichte auseinander. www.sammlerdeskinos.de
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]