THOMAS CHRISTEN

ANSTÖSSIG, UNMORALISCH, SKANDALÖS — FRÜHE HOLLYWOODFILME UND IHRE REGULIERUNG

ESSAY

Der klassische Hollywoodfilm, der von den späten 1920er-Jahren bis Ende der 1950er-Jahre die Kinolandschaft weltweit dominierte, zeichnet sich durch einen hohen Grad an Standardisierung und Normierung aus. Dazu gehörte ein sogenanntes Studiosystem, das einem Oligopol (Herrschaft der wenigen) glich, welches kaum Abweichungen durch unabhängige Produktionen zuliess. Das Starsystem bezweckte, dass sich die Zuschauenden nicht nur an die Studios, sondern auch an die Stars banden. Mit der klassischen Narration stand eine Erzählweise zur Verfügung, welche die Form dem Inhalt unterordnete und trotz ihrer Künstlichkeit beim Publikum ein Gefühl von Natürlichkeit und Realismus entstehen liess. Mittel dazu sind etwa die kontinuierliche Montage oder der unsichtbare Schnitt.

Bereits zu Beginn des klassischen Hollywoodfilms lassen sich nach einer Reihe von Skandalen in der Filmmetropole Bestrebungen beobachten, die auf eine Regulierung des Inhalts der Filme abzielen. Was darf gezeigt werden und vor allem, wie? Hollywood will damit die Macht der staatlichen Zensur, die vielfach bei den Bundesstaaten oder gar den einzelnen Städten liegt, unterlaufen. Es liegt nämlich überhaupt nicht im Interesse der Studios, verschiedene Versionen ihrer zumeist kapitalintensiven Produktionen herzustellen. Um gleichsam ein Regelwerk auszuarbeiten, wird der ehemalige Postminister Will Hays beauftragt, ein solches auszuarbeiten. Es stellt eine Art Selbstzensur dar und arbeitet in Form von Tipps heraus, welche Stoffe in welcher Form auf die Leinwand gebracht werden sollten. Im Jahre 1930 lag ein erstes Regelwerk vor, das, wie die spätere Version auch, unter dem Titel ‹Production Code› 1934 verbindlich wurde. Es stellte Vorgaben auf, die vor allem die Themenkreise Sexualität und Gewalt betrafen. In der Zeit bis Mitte 1934 kümmerte sich die durch die wirtschaftliche Depression infolge der Weltwirtschaftskrise gebeutelte Filmindustrie kaum um dieses Regelwerk. Ja, es scheint, als sei sie den gegenteiligen Weg gegangen, um das von der Weltwirtschaftskrise getroffene Publikum mit spektakulären und eben auch skandalträchtigen Stoffen in die Kinos zu locken.

So entstand in den wenigen Jahren zwischen 1929 und 1934 in Hollywood eine Reihe nicht regulierter und freizügiger Filme. Diese Phase wird in der Filmgeschichtsschreibung mit dem Begriff ‹Pre-Code› charakterisiert und gehört zu den interessanteren, aber wenig bekannten des klassischen Hollywoodkinos. Thematisch schien alles möglich, und diese Freiheit wurde vielfach ausgenutzt, bis 1934 der ‹Hays Code› in Kraft trat. Dem aus religiöser Sicht unmoralischen Treiben der Produzenten, Stars, Drehbuchschaffenden und Regisseure sollte ein Ende bereitet werden. Auf den Code gehe ich später noch ein, es lässt sich aber behaupten, dass damit eine Phase der kreativsten Jahre Hollywoods endete. Die Stossrichtung des Code kann man mit dem Stichwort anständig umschreiben, was eine Regulierung in allen Bereichen der Darstellung im Film bedeutete. Vor allem zwei Themenbereichen, die in der Zeit vor dem Code ausserordentlich locker zur Darstellung gelangten, wurden enge Fesseln angelegt: Sexualität und Brutalität/Verbrechen. Damit verschwand nach 1934 das Genre des Gangsterfilms fast vollständig aus den Studioproduktionen, und die Darstellung von Sexualität und Erotik (vor allem bei Frauen) wurde abgelöst durch die sogenannten ‹Screwball Comedies›, die treffend auch als Sexfilme ohne Sex charakterisiert werden können. Ausserordentlich schnell gesprochene Sprache, intelligente, aber etwas verrückte Frauenfiguren und begriffsstutzige Männer ergeben ein Subgenre der Komödie, in dem die sexuellen Referenzen in der Sprache und dem skurrilen Handlungsablauf versteckt werden. Aber was geschah mit den Pre-Code-Filmen, die bereits produziert und ausgewertet wurden nach 1934? Bis auf wenige Klassiker (wie etwa King Kong (Merian C. Cooper/Ernest B. Schoedsack, US 1933), Dracula (Tod Browning, US 1931), Scarface (Howard Hawks, US 1932) oder die Tarzan-Filme, die teilweise zensuriert oder mit moralisierenden Eingangsschrifttafeln versehen wurden, verschwanden jene in den Regalen der Archive der Produktionsfirmen und wurden nicht mehr gezeigt. Ihre Wiederentdeckung erfolgte erst in den letzten Jahren.

Der Production Code

Hollywoods klassische Ära begann in den 1920er-Jahren, als die Filmindustrie zu einem bedeutsamen Zweig der Unterhaltungsindustrie aufstieg und auf breites gesellschaftliches Interesse stiess. Dadurch geriet der Film auch ständig ins Visier von Institutionen, die sich für die Einhaltung von Moral, Sitte und Anstand zuständig fühlten: allen voran der katholischen Kirche. Ihr gehörten damals zwar nur 20 Millionen US-Amerikaner an, aber vielleicht sah sie gerade deshalb in der Überwachung der Filmindustrie eine Möglichkeit, ihre gesellschaftliche Bedeutung zu steigern. Das gesellschaftliche Ansehen des Films war ursprünglich gering und nicht durch ‹free speech›, die in der US-Verfassung garantierte Redefreiheit, geschützt. Dass Film kein ‹Sprachmedium› war, kam der Filmindustrie ursprünglich entgegen: So blieben Produktion und Verleih lange vor der Willkür einer Zensur verschont. Doch im Lauf der 1920er-Jahre wurde der Ruf nach einer Filmzensur immer lauter. Mit der Einführung des Tons wurde der Film um eine wichtige Ebene ‹realistischer›: Jetzt kam die Sprache hinzu, die Filmfiguren orientierten sich stärker an der Realität, Obszönitäten und Unsittlichkeiten waren plötzlich hörbar. Das war den konservativen Kreisen zu viel. Die Filmindustrie versuchte, ihnen durch Selbstzensur zuvorzukommen: Sie beauftragte 1927 den früheren Postminister Will Hays, einen Verhaltenskode zu entwerfen, an den sich die Filmschaffenden halten sollten. 1930 legte Hays eine Liste von strengen Vorschriften vor: den sogenannten ‹Production Code›. Doch die meisten Studios dachten vorerst nicht wirklich daran, sich an die Vorschriften zu halten – bis sie 1934 durch die Einführung verbindlicher Selbstzensurregeln nicht mehr anders konnten, da sonst die Filme nicht mehr hätten gezeigt werden können.

Die Pre-Code-Filme

Für eine kurze Zeit – von 1927 bis 1934 – öffnete sich gleichsam ein frivoles Fenster innerhalb der Filmproduktion: Zahlreiche Filme wurden gedreht, die der Realität näherstanden als den idyllischen (und scheinheiligen) Vorstellungen des Hays Code. In diesen Jahren kam es zu einer wahren Explosion an Ideenreichtum und -vielfalt, zu einer kurzen, libertären Phase Hollywoods, deren Produktionen heute als Pre-Code-Filme bezeichnet werden.

Werfen wir anhand einiger bekannter, aber vor allem auch in Vergessenheit geratener Filme einen Blick auf diese kurze Zeit Hollywoods, in der alles erlaubt schien: die Darstellung von Nacktheit und (Homo-)Sexualität, Promiskuität, Prostitution, von Vergewaltigung und Kindsmissbrauch, von Alkohol- und Drogensucht, von dysfunktionalen Familien samt Inzest und nicht zuletzt einer gewissen Verherrlichung von Gewalt und Kriminalität. Die Gangster waren zwar die Bösen und in der Regel am Ende tot, ihr ungezügeltes Leben weckte beim Publikum aber auch Faszination und Sympathie.

Eine wahre Blüte erlebte in der Pre-Code-Zeit der Gangsterfilm. Viele dieser Werke, die oft von einem harten, bisweilen brutalen Realismus geprägt sind, sind inzwischen zu Klassikern geworden: Underworld (Josef von Sternberg, US 1927), Little Caesar (Mervyn LeRoy, US 1931), The Public Enemy (William Wellman, US 1931), Scarface oder I Am a Fugitive from a Chain Gang (Mervyn LeRoy, US 1932), der zugleich eine scharfe Anklage gegen das brutale Gefängnissystem der US-Südstaaten ist. Dagegen ist es bezeichnend, dass ein Film wie G Men (William Keighley, US 1935), der einen FBI-Agenten und seinen Kampf gegen das Böse ins Zentrum stellt, nach der Durchsetzung des Production Code 1934 entstand. Das Skript wurde von FBI-Direktor Edgar G. Hoover persönlich durchgesehen und war, wenn man böse will, ein verkappter Propagandafilm für die Arbeit der staatlichen Ermittlungsbehörde. Nun werden nicht mehr die Gangster, sondern die Gesetzeshüter heroisiert.

Das vielleicht berühmteste und überzeugendste Beispiel aus dieser Reihe von Gangsterfilmen aus der Pre-Code-Zeit stellt Howard Hawks’ Scarface mit Paul Muni in der Rolle von Tony Camonte dar. Zwar wird am Ende des Films der Gangster in seinem zum Bunker ausgebauten Appartement von einem Riesenaufgebot von Polizisten zur Strecke gebracht, aber die Figur des Gangsters, der vom kleinen Ganoven bis zum Gang-Boss dank seiner Skrupellosigkeit Karriere macht, ist geprägt von einer Faszination für das Böse, ist aber auch eine Pervertierung des amerikanischen Traums, der den Millionen Immigranten (Camonte stammt aus Italien) die Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär vorgaukelt. Der Gangster erscheint hier und in anderen Filmen der Pre-Code-Zeit nicht so sehr als Verbrecher, sondern als einer der letzten Abenteurer, die sich in einer zunehmend bürokratischen und regulierten Welt selbst verwirklichen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass der Western nach der Einführung des Production Code eine Hochblüte erfährt, greift er doch das gleiche Thema auf: der Mann, der sich im Wilden Westen selbst verwirklicht. Im Unterschied zu den Gangsterfilmen bewegt sich der Western in einem von der Zivilisation noch unberührten und quasi rechtslosen Raum.

Camonte ist nicht nur ein Killer, sondern pflegt auch noch, wenngleich nur angedeutet, ein inzestuöses Verhältnis zu seiner Schwester Ceska. Dies wird besonders offensichtlich, als er seinen besten Freund und Helfer kaltblütig aus dem Weg räumt, nachdem er herausgefunden hat, dass dieser mit seiner Schwester ein Liebesverhältnis eingegangen ist. Auch Camontes Untergang beginnt mit der Ankunft seiner Schwester, die sich zunächst für die Ermordung ihres Geliebten an ihrem Bruder rächen will, indem sie seine Erschiessung plant, ihn dann aber doch im Abwehrkampf gegen die Übermacht der Polizei unterstützt, jedoch dabei von einem Querschläger getroffen wird und daran stirbt. Mit diesem Verlust ist auch Camontes scheinbare Übermenschlichkeit gebrochen. Regisseur Hawks arbeitet stark mit Bildsymbolen (etwa dem Kreuz, das sich jeweils vor Camontes mörderischem Treiben im Bildaufbau zu erkennen gibt) oder mittels Ton: Camontes Pfeifen einer Melodie begleitet ebenfalls seine Verbrechen, besonders eindrücklich etwa zu Beginn des Films, der fast ausschliesslich mit diesen beiden Stilmitteln arbeitet. In nicht wenigen Gestaltungsmitteln wirkt Scarface wie ein früher Vorläufer jenes Subgenres, das die Arbeit mit Lichtkontrasten perfektionierte: des Film noir.

Auch der Horror- oder fantastische Film erlebt in den frühen 1930er-Jahren eine wahre Glanzzeit. Mit allen Mitteln zielt er darauf ab, beim Publikum Gefühle von Angst, Schrecken und Verstörung auszulösen, auch in der Darstellung von Sexualität und Nacktheit ist er alles andere als zurückhaltend. Wie beim Gangsterfilm entstehen die grossen Meisterwerke zu Beginn der 1930er-Jahre: Dr. Jekyll and Mr. Hyde (Rouben Mamoulian, US 1931), Dracula, Frankenstein (James Whale, US 1931) – und nicht zuletzt der von Selznick produzierte King Kong, der von der Liebe eines Riesenaffen zu einer Frau erzählt, aber auch von der Brutalität des Monsters, das Menschen zertrampelt oder zerstückelt. Dabei rührt King Kong an einem weiteren gewichtigen Tabu: der Liebe eines Tieres zu einem Menschen, in diesem Fall zu einer Frau.

Gezügelte Musicals

Einen kreativen Verlust bedeuteten die durch den Production Code völlig in ihrer Frivolität, Spielerei und Leichtigkeit eingeschränkten Musicals, vor allem jene in der Choreografie von Busby Berkeley. Die drei Musicals Gold Diggers of 1933 (Mervyn LeRoy), 42nd Street (Lloyd Bacon) und Footlight Parade (Lloyd Bacon), die alle im Jahr 1933 gedreht wurden, gehören wegen ihrer visuellen Umsetzung zum Besten, was dieses Genre hervorgebracht hat, zumal wenn man die technischen Möglichkeiten berücksichtigt, unter denen sie entstanden. Sie sind, wie so oft in diesem Genre, Backstage-Musicals, sie bestehen also nicht nur aus Tanz- und Gesangsnummern, sondern zeigen auch den Prozess, wie ein Musical entsteht. Damit beziehen sie eine breite gesellschaftliche Palette verschiedenster Figuren ein: von Geldgebern und Produzenten über Songschreiber, Darsteller_innen und Bühnenpersonal bis zum Publikum. Das zentrale Element für die Einmaligkeit dieser drei Musicals ist jedoch der Choreograf – und zwar nicht die Filmfigur, die jeweils eher eine Karikatur ist, sondern jener der Filme selbst. In allen drei Fällen schrieb der einfallsreiche und talentierte Busby Berkeley mit seinen tänzerischen Umsetzungen und Kameraführungen Filmgeschichte.

Gold Diggers of 1933 führt gleich in den ersten Bildern mitten ins Thema: die ‹Great Depression›. Ein Musical, dessen Premiere am nächsten Tag stattfinden soll, wird wegen Zahlungsunfähigkeit gepfändet. Die Arbeit der letzten Wochen ist vergebens. Ironischerweise heisst die Nummer, die während der Pfändung gespielt wird, «We’re in the Money». Guter Rat ist teuer. Doch der Regisseur ist um Ideen nicht verlegen: Eine neue Produktion greift das Thema Depression, Armut und Arbeitslosigkeit auf. Im Zentrum soll der ‹forgotten man› stehen (dem dann auch die Schlussnummer gewidmet ist), also einer der Zehntausenden von US-Amerikanern (und mit ihnen ihre Familien), die im Ersten Weltkrieg dem Land dienten, aber nicht mehr ins normale Leben zurückfanden und auf der Strasse zu Bettlern wurden: entehrt, gedemütigt, oft aus dem sozialen Netz ge- und dem Alkohol verfallen. Nach einigen Störmanövern gelingt am Ende die Show und wird zu einem grossen Erfolg.

Gold Diggers of 1933 besteht hauptsächlich aus drei grossen Bühnennummern – im Gegensatz zu Footlight Parade von Lloyd Bacon, in dem die harte Probenarbeit und das Verzweifeln des Choreografen im Mittelpunkt stehen und sich das Team vor der Premiere drei Tage im Theater einschliesst, um Ideenklau zu verhindern. «Pettin’ in the Park», die erste Shownummer, setzt erst ein, als der Film die Hälfte seiner Laufzeit erreicht hat. Sie enthält eine Wasserszene (es beginnt zu regnen), was nur ein Jahr später wohl nicht mehr möglich gewesen wäre. Der Production Code wusste solche Anzüglichkeiten und einen so offenen Umgang mit Sex und Erotik unter dem Einfluss der katholischen Kirche und ihrer Legion of Decency zu verhindern, was allerdings nicht immer gelang. Hollywood hatte nach Ansicht der Legion seit den 1920er-Jahren an Anstand verloren und hielt sich überhaupt nicht an deren heiles Familienbild: Wasser, leicht bekleidete Frauen, unverheiratete Paare im gleichen Bett – das ging zu weit. Der zweite Teil heisst «The Shadow Waltz». Das Geigenmotiv mit im Dunkeln leuchtenden Instrumenten, die die Leinwand beherrschen, und die im Takt schwingenden Kleider machen aus dieser Nummer einen Augenschmaus. Berkeley verlässt immer wieder die eigentliche Zuschauersicht und nimmt mit der Kamera Perspektiven ein, die das Publikum im Theater nicht zu sehen bekommt: an der Decke hängend oder im Wasser schwimmend. In der letzten und dritten Nummer, «Remember My Forgotten Man», wird es nun politisch, wie man es selten in einem Musical sieht. Hier findet sich alles, was der ‹New Deal› (eine Sozialreform zur Beseitigung der durch die Wirtschaftskrise verursachten Schäden, vor allem Arbeitslosigkeit und Landflucht) zu bekämpfen verspricht: Stadtstreicher, eine Horde von Arbeitssuchenden, zerrissene Familien, Suppenküchen, Soldaten, die in den Krieg ziehen und aus ihm – physisch und psychisch – verwundet heimkehren.

All dies wird von Carols (Joan Blondell) herzzerreissendem Song begleitet. Anders als die beiden vorausgehenden Nummern hinterlässt «Remember My Forgotten Man» ein tiefes Gefühl von Betroffenheit und Anteilnahme. Gold Diggers of 1933 zeigt zwar Berkeleys Virtuosität, sein Talent für das visuell Aussergewöhnliche, aber die Massenszenen machen den einzelnen Tänzer zur reinen Sache, zum Ornament. 42nd Street und Footlight Parade sind ebenfalls Backstage-Musicals und weisen nicht nur eine ähnliche Handlung wie Gold Diggers of 1933 auf, sondern grösstenteils auch die gleichen Darsteller_innen, vor allem bei den Tänzerinnen. Da beide Filme noch zur Pre-Code-Ära gehören, gehen sie mit der Darstellung von Erotik und Sexualität ziemlich freizügig um. Beide Produktionen nehmen direkten Bezug auf die Jahre der Wirtschaftskrise, wobei 42nd Street etwas düsterer angelegt ist, und wiederum führt Busby Berkeley die einfallsreiche Choreografie.

Der Produzent Julian Marsh scheint in 42nd Street am Ende seiner Kräfte zu sein. Mehrfach erwägt er, die neue Produktion aufzugeben. Der Film zeigt im ersten Teil die mühsamen und anstrengenden Proben, die ständigen Neukonzeptionen und die schwindende Kraft des Produzenten. Die letzten zwanzig Minuten zeigen dann die zustande gekommene Show vor Publikum – mit den grossen Nummern «Shuffle Off to Buffalo», «(I’m) Young and Healthy» und dem titelgebenden «42nd Street».

Da 42nd Street sehr erfolgreich war, realisierte Warner Bros. noch im selben Jahr mit Footlight Parade praktisch ein Remake, das noch spritziger ist, was vor allem daran liegt, dass die Rolle des Produzenten Chester Kent mit dem Kraftbündel James Cagney besetzt wurde. Da es in der Belegschaft einen «Werkspion» gibt, der die neuen Nummern der Konkurrenz verrät, lässt Kent das Haus hermetisch abriegeln: Das gesamte Personal arbeitet, isst und schläft bis zur Premiere – drei Tage lang – im Theater. Die Nummern, die wir am Ende von Footlight Parade zu sehen bekommen, sind «Honeymoon Hotel», mit einer Handlung (unverheiratete Paare in intimen Situationen), die der Production Code später nicht mehr zugelassen hätte, «By a Waterfall», eine äusserst spektakuläre Wasserballett-Choreografie, und die etwas martialisch wirkende Nummer «Shanghai Lil», die allerdings dadurch aufgelockert wird, dass der Marinesoldat (Cagney) seine Shanghai Lil (Ruby Keeler) in eine Militäruniform steckt, damit er mit ihr zusammenbleiben kann.

Unter den Teppich gekehrte Sozialkritik

Besonders heikel und ärgerlich waren für die konservativen Sittenhüter gesellschaftskritische Filme, die zeigen, dass der Mensch auch seine Schattenseiten hat. Statt diese auszublenden, zeigen die Pre-Code-Filme sie mit einem bisher nicht bekannten Realismus. Gemeinsam ist vielen dieser Filme, dass im Zentrum Frauen stehen, die zwar missbraucht und erniedrigt werden, sich aber als ausserordentlich schlau, widerstandsfähig und stark erweisen. Das vermeintlich schwache Geschlecht ist dem Mann vielfach überlegen und weiss – wie in Night Nurse (William Wellman, US 1931) mit Barbara Stanwyck in der Hauptrolle – seinen Willen notfalls auch mit Fäusten durchzusetzen. Ausserdem thematisiert der Film relativ ungeschminkt eine dem Alkohol verfallene Oberklasse, die ihre Kinder verhungern lässt, um nach deren Tod an ihr Erbe zu kommen, damit sie das lasterhafte Leben weiterführen kann.1 Als erster solcher Film gilt The Divorcee (Robert Z. Leonard, US 1930) über eine Frau, die, als sie vom Seitensprung ihres Mannes erfährt, den Spiess kurzerhand umdreht und mit seinem besten Freund schläft. Weitere solche Filme, in denen oft auch der Alkohol (besonders in der High Society) eine grosse Rolle spielt, sind Baby Face (Alfred E. Green, US 1933), in dem sich einmal mehr Barbara Stanwyck als Lily aus ihrem ärmlichen Zuhause buchstäblich in die Chefetage einer grossen Bank hochschläft, sogar einen Mord begeht und ungeschoren davonkommt, sowie der thematisch verwandte The Red Headed Woman (US 1932) von Jack Conway mit der rothaarigen Jean Harlow in der Hauptrolle. Auch hier scheut die Sekretärin Lil, nachdem sie den gesellschaftlichen Aufstieg aufgrund ihres Sex-Appeals geschafft hat, nicht vor einer kriminellen Tat zurück, die ihr jedoch nur eine kurze Haftstrafe einträgt. Am Ende des Films sehen wir Lil in Paris, wie sie ihr Spiel der Verführung älterer, aber reicher Männer weiterführt.

I’m No Angel (Wesley Ruggles, US 1933) und She Done Him Wrong (Lowell Sherman, US 1933), beide mit der mit ihren Reizen nicht geizenden und mit einem extrem losen Mundwerk ausgestatteten Mae West, sind weitere Beispiele für das gewandelte Bild einer starken und schlagfertigen Frau. The Story of Temple Drake (Stephen Roberts, US 1933), nach William Faulkners Roman Sanctuary und mit Miriam Hopkins in der Titelrolle, galt wegen seiner Darstellung von Vergewaltigung und Prostitution als so skandalös, dass er die Einführung des Codes wesentlich beschleunigte. Er wirkt auch heute noch sehr beklemmend, wobei die Darstellung von Miriam Hopkins als scheinbar gefallene Frau herausragend ist. Ähnlich wie Scarface ist The Story of Temple Drake in seiner stilistischen Gestaltung, seinem ausdrucksstarken Spiel mit Licht, Schatten und Regen in der Nacht der Vergewaltigung als Vorläufer des Film noir zu sehen. Weitere Pre-Code-Filme lassen schon im Titel Skandalträchtiges erkennen – wie etwa Safe in Hell (William Wellman, US 1931) oder Bad Girl (Frank Borzage, US 1931). Viele dieser sozialkritischen Filme verschwanden nach der Durchsetzung des Production Code aus den Kinos.

1934 war Schluss mit dieser frivolen, aber auch ausserordentlich kreativen Zeit in Hollywood. Da Hays selbst gegen eine eigentliche Zensur war, übernahm sein Assistent Joseph Breen, der Vorsitzende der katholischen Legion of Decency, das Ruder und setzte mit Boykottdrohungen durch, dass die US-amerikanische Vereinigung der Filmproduzenten den Production Code nun endlich anwendete. Sowohl das Drehbuch als auch der abgedrehte Film mussten die Kontrolle durch die PCA (Production Code Administration), eine Kommission interner Zensoren, durchlaufen, ehe der Film in die Kinos gelangte. Zahlreiche Filme wurden mit Kürzungen entschärft, oft wurde ihnen ein Happy End aufgedrückt. Die Kinos, die ja den Studios gehörten, durften keinen Film ohne das Siegel der internen Zensurinstanz zeigen. Ab 1934 wurde Hollywood braver, eskapistischer, realitätsfremder. Kriminalität, Brutalität und soziale Probleme verschwanden aus den Filmen, Sexualität konnte höchstens chiffriert dargestellt werden, was etwa dazu führte, dass sich in unzähligen Filmen selbst Ehepaare nur ganz züchtig küssten und in getrennten Betten schliefen. Damit erfuhr eine der kreativsten, realitätsnahen und thematisch mutigsten Zeiten innerhalb des Studiosystems ein jähes Ende, und die Welt auf der Leinwand war aus Sicht der Selbstzensoren wieder sauber und in Ordnung. An diese Art der Selbstbeschränkung hielten sich bis auf ganz wenige Ausnahmen die Studios, Regisseur_innen und Drehbuchautor_innen bis Ende der 1950er-Jahre. Spätestens als Alfred Hitchcock in seinem Klassiker Psycho (US 1960), den er mit eigenem Geld produzieren musste, ein nacktes Mordopfer unter der Dusche zeigte, fielen die meisten der Beschränkungen durch den Production Code, was sich dann auch die Phase der Erneuerung des New Hollywood zunutze machte.

Im Nachhinein erscheint Barbara Stanwycks Ausspruch als Krankenschwester Lora Hart (man beachte die Namensgebung der starken Frauenfiguren: so heisst die Hauptfigur) gleichsam prophetisch zur heuchlerischen Haltung Hollywoods nach der Einführung des Production Code, wenn sie beklagt: «Oh, ethics ... ethics ... ethics! That’s all I’ve heard. Isn’t there any ethics about letting poor little babies be murdered?»

Literatur

Sheri Chinen Biesen, Film Censorship: Regulating America’s Screen, London 2018.

Thomas Doherty, Pre-Code Hollywood: Sex, Immorality, and Insurrection in American Cinema: 1930–1934, New York 1999.

Mick LaSalle, Complicated Women: Sex and Power in Pre-Code Hollywood, New York 2000.

Mick LaSalle, Dangerous Men: Pre-Code Hollywood and the Birth of the Modern Man, New York 2002.

Mark A. Vieira, Sin in Soft Focus: Pre-Code Hollywood, New York 1999.

Mark A. Vieira, Forbidden Hollywood: the Pre-Code Era (1930–1934): When Sin Rules the Movies, Philadelphia 2019.

Thomas Christen
Geb. 1954. Studium der Germanistik, Publizistikwissenschaft, Psychologie und Filmwissenschaft. Dissertation über Das Ende im Spielfilm: vom klassischen Hollywood zu Antonionis offenen Formen (Schüren 2002).

Seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Art Cinema, europäischer Film, Filmgeschichte, Narratologie, Selbstreflexivität. Forschungsprojekt über «Formen des filmischen Exzesses» (Habilitation), «Martin Schlappner, die Neue Zürcher Zeitung und der neue Schweizerfilm» sowie Projekt der Herausgabe einer mehrbändigen Einführung in die Filmgeschichte.
(Stand: 2021)
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