MACIEJ PEPLINSKI

DER NACKTE KÖNIG – 18 FRAGMENTE ÜBER REVOLUTION (ANDREAS HOESSLI)

SELECTION CINEMA

Am Anfang der 1980er-Jahre hielt sich der Regisseur Andreas Hoessli als Forschungsstipendiat in Polen auf. Die Zeit zwischen 1980 und 1983 war für das sozialistische Land eine Periode der tiefen politischen Krise. Kurz nach der Entstehung des unabhängigen selbstverwalteten Gewerkschaftsbundes Solidarność verordnete das kommunistische Regime die Einführung eines Kriegszustandes, um die unerwünschte Befreiungsbewegung zu unterdrücken. Während seines Aufenthaltes lernte Hoessli Ryszard Kapuściński kennen – einen polnischen Reporter, der damals an seinem berühmten Bericht Schah-in-schah über die Iranische Revolution von 1979 arbeitete.

Die vor 40 Jahren gesammelten Erfahrungen nutzt Hoessli in seinem neuesten Film als Ausgangspunkt für eine filmessayistische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der gesellschaftlichen Revolte. Auf tief reflexive Weise und in Anlehnung an berührende polnische und iranische Archivmaterialien beleuchtet der Regisseur die verschiedenen Mechanismen einer Revolution: die unsicheren Reaktionen des bisherigen Establishments; den brutalen Kampf auf den Strassen; das Kippen des utopischen Moments, wenn die Euphorie der Befreiung und die Freude über die wiedererlangte Würde allmählich erlahmen.

Die geschickt konzipierte revolutionstheoretische Komparatistik – versehen mit umfangreichen Kommentaren des Regisseurs – findet in Der nackte König auf zwei Ebenen statt. Zum einen geht es um eine vorsichtige Gegenüberstellung der damals im kurzen Zeitabstand geschehenen Revolten in Polen und Iran. Zum anderen konfrontiert Hoessli die geschichtlichen Ereignisse mit verschiedenen Kontexten der Gegenwart. Dabei verfolgt er eine deutlich subjektive, teilweise stark assoziative Narrations- und Bildlogik – Szenen aus den Strassen Teherans und Gespräche mit iranischen Intellektuellen kombiniert er mit ausgefeilten, dystopisch anmutenden Nachtaufnahmen vom zeitgenössischen Warschau sowie mit privaten Erkundungen über die auf seine Person bezogene Arbeit der polnischen Staatssicherheit.

Der nackte König beeindruckt durch seine konsequente Low-key-Ästhetik, seine hervorragend orchestrierte Montage und durch seinen stark elegischen, an die Filmessays Alexander Sokurows erinnernden Ton beim Nachdenken über die Ereignisse und Erfahrungen der letzten vier Jahrzehnte. Die wesentliche Schwäche des Films resultiert aus der Vielzahl der künstlerischen Intuitionen und narrativen Strategien, die Hoessli – als ein Autor, der in seinem Werk sehr präsent ist – alle gleichzeitig verfolgen will. Zum Ende erscheint der Film wenig konklusiv und sein Untertitel 18 Fragmente über Revolution etwas verwirrend, da mindestens ein Drittel des Films das persönliche und selbstreflexive ‹revisiting of the past› des Regisseurs ausmacht.

Maciej Peplinski
*1988, Studium der Filmwissenschaft in Krakau und Berlin. Doktorand an der Jagiellonen-Universität in Krakau und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig. Filmkritiken für die polnische Film- und Medienzeitschrift Ekrany. Lebt in Berlin.
(Stand: 2021)
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