JULIA ROSE GOSTYNSKI

LOULOU (NATHAN HOFSTETTER)

SELECTION CINEMA

Nathan Hofstetter hielt sich für Gott und gleichzeitig für Jesus. Zwischen dem Filmstudium in Lausanne (ECAL) und dem plötzlichen Tod seiner Mutter während der Dreharbeiten filmt er seine Freund_innen, seine Familie, seine Partnerin und ihn seltsam berührende Springbrunnen und Landschaften.

Sein Gang und sein Blick in die Welt sind besonders sanft. Vorsichtig begibt sich die Handkamera in der ersten Sequenz, scheinbar schwebend, eine steile Treppe hinunter, um immer näher an eine dicke Wand vorzurücken, hinter der Klavier gespielt wird. Eine sanfte Unschärfe, die während der gesamten 70 Minuten anhält, verlagert sich bei den Aufnahmen der Gesichter von Nathans Freunden und Freundinnen in den Hintergrund. Lediglich das Gesicht einer jungen Coca-Cola-Trinkenden im roten T-Shirt ist scharf, während ihre Umgebung in einer Bokeh-Unschärfe zerfliesst. Sie blickt direkt in die Kamera, ihre Augen fallen ständig zu. Sie bedankt sich bei Nathan dafür, dass er sie gefilmt hat, und fügt hinzu, sie habe nur schlecht geschlafen, es sei nicht wegen der Medikamente.

Nathans bester Freund, der lachend erklärt, er leide unter einer bipolaren Störung, hält Nathans Versteck hinter der Kamera – «geschützt hinter dem Zyklopen» – für ein besonders geeignetes. In besseren Zeiten verlässt Nathan Hofstetter sein Zuhause und besucht seine Freunde, fährt Zug oder fliegt nach Island, erzählt mittels Voice-Over gerne und ausführlich. In schwierigen Zeiten, wenn er eine paranoide Phase durchlebt, bleibt er mit seiner Kamera zu Hause, filmt sich im Spiegel und versucht, den Funken Wahnsinn, den ihn in dem Moment zu ergreifen sucht, selbst nicht ganz ohne Angst, einzufangen.

Mit paranoider Schizophrenie diagnostiziert, eröffnet Nathan sich selbst und seinen Freunden durch das Auge des Zyklopen einen Raum, in dem psychische Krankheiten als Wahrnehmungserlebnisse gefeiert oder als Albträume verbannt werden können. In der fortlaufenden Handlung vermischen sich Räume mit Emotionen und werden zu undefinierbaren und vor allem nicht wertbaren Dingen. Denn in den Blicken Hofstetters auf seine nahe Umwelt und auf die liebsten Menschen lässt sich neben grosser Leidenschaft und aufrichtigem Interesse vieles erahnen, doch wertend blickt er nie.

Hofstetter ist sich der Aufnahmesituation stets bewusst und rückt diese immer wieder in den Fokus. Das ständige Hinweisen auf die Unschärfe kann auch für seine subjektiven Wahrnehmungstrübungen stehen. Immer wieder kündigt er an, dass die momentane Sequenz die letzte seines Films sein könnte. Darüber entscheide er aber erst am Schneidetisch. Und je länger sich der scharfe und doch verschwommene Blick Nathans im sanften Bild der Kamera vor uns ausbreitet, umso mehr fürchten wir das immer wieder fast drohend angekündigte Ende dieses mitreissenden Filmes.

Julia Rose Gostynski
*1997, studiert Kunstgeschichte und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. Im Oktober beginnt sie ihr Drehbuchstudium an der dffb Berlin.
(Stand: 2021)
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