BETTINA SPOERRI

WER HAT EIGENTLICH DIE LIEBE ERFUNDEN? (KERSTIN POLTE)

SELECTION CINEMA

Auf das Langspielfilm-Debüt von Kerstin Polte durfte man gespannt sein, hat die Regisseurin und Drehbuchautorin doch bereits mit ihrem ZHdK-Abschluss-Kurzfilm 510 Meter über dem Meer (2008) gezeigt, dass sie einen treffsicheren, aber auch poetischen Humor besitzt und ihre filmische Arbeit eine eigene Handschrift aufweist.

Der Kinospielfilm Wer hat eigentlich die Liebe erfunden? nimmt einige der Motive, aber vor allem die ganz eigene Stimmung jenes Films auf, entwickelt diesmal dazu ein dichtes Geflecht von Figuren, die einen neuen Weg zu einem Sinn in ihrem Leben suchen. Corinna Harfouch kennt man zwar bereits aus anderen Filmen in der Rolle der älter werdenden Frau, die gegen ihre bisherige Rolle rebelliert, ausbricht und verschwindet, doch Kerstin Polte stellt sie in eine überraschend luftige, helle und dennoch tiefsinnige Komödie. Charlotte, die spürt, dass ihr Gedächtnis sie im Stich lässt, ist enttäuscht, als ihr Vorschlag eines Inselausflugs bei Mann und Tochter auf taube Ohren stossen – und macht sich kurzerhand allein auf den Weg. Als blinde Passagierin an Bord des Autos entpuppt sich ihre aufmüpfige Enkelin. Natürlich machen sich alsbald Mann Paul und Tochter Alex beunruhigt auf die Suche der beiden, wobei sie auch auf dem Beifahrersitz der coolen Lastwagenfahrerin Marion landen.

Das Besondere an diesem Film ist weniger der Plot – man ahnt schon bald einmal, dass die Reise alle aufwachen und zueinander finden lässt – als die Art und Weise, wie diese Geschichte erzählt wird. Zum einen kommt hier ein virtuoses Ensemble von Schauspielerinnen und Schauspielern zusammen, die sowohl das komische als auch das ernste, dramatische Fach wirklich beherrschen – auch den schmalen Grat dazwischen, wo eine Situation ständig kippen kann. Zum anderen lotet Polte mit Anina Gmuer (Kamera) für dieses Roadmovie die faszinierenden Eigenheiten der norddeutschen Küstenlandschaft aus: die Weite, die Kargheit, die einzigartige Lichtstimmung, die Melancholie vergessener Orte.

Die unverstellte Sicht in die Ferne weckt alte Sehnsüchte und Gefühle, die sich langsam, aber unaufhaltsam emporarbeiten. Auch von der allmächtig scheinenden Instanz eines kauzigen Hoteliers, bei dem sie Unterschlupf finden, kann sich die Familie emanzipieren. Für diesen Film erhielt die deutsch-schweizerische, in Berlin lebende Filmautorin Kerstin Polte den Bayerischen Nachwuchsregie-Filmpreis. Eine wohlverdiente Ermutigung, die sie, so ist zu hoffen, auf ihrem künstlerischen Weg bestärkt – auf dass sie uns in Zukunft auch weiter überraschen wird.

Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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