DORIS SENN

DE LA CUISINE AU PARLEMENT – EDITION 2021 (STÉPHANE GOËL)

Kein Sujet war tabu, keine Schublade zu tief, um dem Schweizer Volk das Stimmrecht für Frauen madig zu machen. So etwa das Plakat mit dem Teppichklopfer, darunter «Frauenstimmrecht Nein», das mit dem schreienden Bébé, vom Büsi aus der Wiege verdrängt, während «die Mutter Politik treibt», oder die Affiche mit der keifenden Schreckgestalt und dem Zusatz: «Wollt ihr solche Frauen? Frauenstimmrecht NEIN». 1971 wurde das Frauenstimmrecht endlich eingeführt – die Schweiz war damit eines der letzten Länder Europas. Wobei es dann noch zwei weitere Jahrzehnte brauchte – und den Spott der Welt –, damit auch der letzte Kanton, Appenzell Innerrhoden, spurte. Auf Drängen der Appenzellerinnen und auf Druck des Bundes.
 
In einer ebenso akkuraten wie humorvollen, dichten Collage aus Archivaufnahmen von SRF, Cinémathèque und der Gosteli-Stiftung gibt der Westschweizer Filmemacher Stéphane Goël einen Abriss der Geschichte des Frauenstimmrechts in der Schweiz, die – noch nicht allzu lange ist es her – ein unglaublich konservatives und patriarchales Bild abgab. Eingeflochtene Statements wichtiger Figuren dieses Kampfs um Gleichberechtigung verorten die Geschehnisse im Rückblick – etwa die Frauenrechtlerin Marthe Gosteli, Gabrielle Nanchen als eine der ersten Nationalrätinnen oder Elisabeth Kopp, die als erste Frau im Bundesrat Einsitz nahm.
 
De la cuisine au parlement beginnt mit einem Rückblick Mitte des 19. Jahrhunderts und der Schweizer Verfassung, die «alle Menschen gleich vor dem Gesetz» statuierte – mit Ausnahme des Wahlrechts. Der Film erzählt von den Suffragetten und den gesellschaftlichen Veränderungen bis nach dem Zweiten Weltkrieg, um sich dann vertieft jenen Positionen zu widmen, welche die Schweiz noch rund zwei Jahrzehnte mit dem Frauenstimmrecht ringen liessen. Über 50 Abstimmungen brauchte es, um den Frauen das Stimmrecht auf Bundesebene zu gewähren. «Die Frauen haben einen hohen Preis bezahlt für die direkte Demokratie», meint der Filmemacher dazu.
 
De la cuisine au parlement trägt den Zusatz «Édition 2021» , basiert der Film doch auf einer ersten Version von 2011 – die anlässlich von 40 Jahren Frauenstimmrecht und in Zusammenarbeit mit dem RTS entstand. Nun, zum 50-Jahr-Jubiläum, rundete Stéphane Goël das Bild und fügte aktuelle Positionen hinzu – etwa von Alt-Bundesrätin Ruth Dreifuss, der Tessiner Ständerätin Marina Carobbio oder der Nationalrätin Tamara Funiciello. Hinzu kamen auch Bilder vom (zweiten) grossen Frauenstreik von 2019, der aufzeigt, dass die Forderungen nach Lohngleichheit und anderem mehr bis heute unerreicht sind. Stéphane Goël gelingt ein augenöffnendes Werk, das auf packende Weise 150 Jahre Schweizer Mentalitätsgeschichte illustriert und Pflichtstoff für jede Schulstube sein sollte.
Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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