NOEMI DAUGAARD

DAS AUFLEBEN DER FESTIVALAURA: DAS 74. LOCARNO FILM FESTIVAL

Wie wohl die meisten, freue ich mich immer, wenn ich in Zürich in den Zug Richtung Locarno steige, doch dieses Mal ist die Freude besonders gross. Nicht nur grüssen mich nach dem Gotthard endlich ein paar sommerliche Sonnenstrahlen, sondern auch der Grund für meine Reise ist nach anderthalb Corona-Jahren ein fast schon aussergewöhnlicher: das Film Festival Locarno. Tatsächlich kann das Festival in diesem August nach ganzen zwei Jahren endlich wieder in seiner (mehr oder weniger) gewohnten Form stattfinden. Mit Covid-Zertifikat, Festival-App und Hygienemasken bewaffnet, mache ich mich gleich nach meiner Ankunft auf den Weg zum Palexpo. Zwar gestaltet sich der Einlass in den Saal etwas umständlicher als sonst, jedoch klappt alles und es überwiegt beim Publikum klar die Freude, wieder hier sein zu können. Das Festival als Gemeinschaftserlebnis – erst im Saal merke ich, wie sehr es mir gefehlt hat, mit hunderten anderen Menschen auf eine grosse Leinwand zu blicken, den einführenden Worten der Moderator_innen und der Gäste zuzuhören und zu klatschen. Und wenn wir schon bei den Gästen sind, auch diese freuen sich und sind sichtlich gerührt davon, vor einem grossen Publikum zu stehen. Mehrere von ihnen unterstreichen, wie schön und wichtig es für sie sei, ihren Film endlich an einem ‹richtigen› Festival zeigen zu dürfen. Viele von ihnen waren wohl nicht mehr sicher, ob dies überhaupt noch geschehen würde.

Die ‹Pardi di Domani›

Für die diesjährige Festivalausgabe habe ich entschieden, mich auf die Kurzfilme, das heisst, die ‹Pardi di Domani›, zu konzentrieren. In dieser Sektion werden Filme aus gleich drei Wettbewerbskategorien gezeigt: dem internationalen Wettbewerb mit Werken von jungen Filmemacher_innen, dem nationale Wettbewerb für Schweizer Filme und dem Wettbewerb ‹Corti d’autore›, in dem Filme von etablierten Regisseur_innen gezeigt werden. In diesem Sinne ist diese Festivalsektion wohl eine der besten, um herauszufinden, was sich im nationalen und internationalen Umfeld gerade Neues tut. Diese Entscheidung habe ich in den sieben Tagen, die ich gesamthaft am Festival verbracht habe, kein einziges Mal bereut. Die grosse Vielfalt an Kurzfilmen überzeugt durchwegs und die interessante Programmierung der einzelnen Projektionen erzeugt oftmals fesselnde Dialoge zwischen den Filmen, sogar unter Beiträgen, die auf den ersten oder auch zweiten Blick nicht unbedingt etwas gemeinsam haben.

Ein wiederkehrendes Thema, das sich dieses Jahr in verschiedenen Kurzfilm-Screenings entfaltet ist Familie. In Love, Dad, zum Beispiel, untersucht die junge tschechische Regisseurin Diana Cam Van Nguyen die Beziehung zu ihrem abwesenden Vater durch die Briefe, die er ihr über Jahre hinweg geschrieben hat. Mit Kreativität, Humor und wirkungsvollen digitalen Animationstechniken erzählt sie von einer Leere, die sie immer noch zu füllen sucht. Der Ukrainische Film Papyni krosivky von Olha Zhurba handelt ebenfalls von einem abwesenden Vater, das Thema wird hier jedoch mit grosser Ernsthaftigkeit und einer gewissen Schwere angesprochen. Auch in Giochi des Italieners Simone Bozzelli geht es unter anderem um Familie, hier durch die Linse von missbräuchlichen zwischenmenschlichen Verbindungen und Machtausnutzung. Ein bedrückender Film, der durch seine Machart und das gute Schauspiel herausragt. Der Langzeitdokumentarfilm How Do You Measure a Year des amerikanischen Regisseurs Jay Rosenblatt fährt weiter mit diesem Thema. In einem langen Entstehungsprozess filmte der Regisseur seine Tochter jedes Jahr an ihrem Geburtstag und stellte ihr dabei jährlich dieselben Fragen. Demnach begleiten die Zuschauer_innen die Tochter und deren Entwicklung durch die Linse des Vaters von ihrem 2. bis zu ihrem 18. Lebensjahr. Ein interessantes Projekt, das zum grössten Teil dank der – zufälligerweise und glücklicherweise – charismatischen und fotogenen Tochter funktioniert.

Zwei Highlights aus den Kurzfilmprogrammen stellten In Flow of Words von Eliane Esther Bots und Les Démons de Dorothy von Alexis Langlois dar – zwei Filme, wie sie stimmungsmässig und ästhetisch wohl nicht unterschiedlicher sein könnten. Bots Dokumentarfilm ist ein sorgfältiges, sanftes Portrait über Dolmetscher_innen am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. Über ästhetisch gekonnt umgesetzte Bilder erzählen die Dolmetscher_innen im Voice Over von ihrem Alltag. Einer von ihnen sagt im Film «I’m a glorified phone», aber der Film hinterfragt genau diese Aussage und gibt diesen ‹Telefonen› ihre Menschlichkeit zurück. Tatsächlich ermöglicht der Film einen Einblick in eine Realität, über die ich mir zuvor zugegebenermassen nie Gedanken gemacht hatte: was heisst es, Dolmetscher_in zu sein und vor Gericht oder in Verhören die Aussagen von Täter_innen und Opfern zu übersetzen, wenn man weiss, dass man selbst das Opfer hätte sein können? Wie geht man damit um, wenn einem erzählt wird, wie Kinder aufgrund ihrer Religion und Ethnie umgebracht werden, wenn man selbst dieser Religion und Ethnie angehört? Der Film wurde in Locarno verdientermassen mit dem ‹Best Direction Prize – BONALUMI Engineering› ausgezeichnet und wird ausserdem vom Locarno Film Festival als Kandidat für die European Film Awards eingegeben.

Im selben Filmprogramm lief auch Langlois Film, was die teilweise eklektische Zusammenstellung dieser Kurzfilmprogramme wunderbar illustriert. In Les Démons de Dorothy rechnet Langlois nicht nur mit der Filmbranche, dem ‹cinéma de papa›, der problematischen Filmförderung und dem Patriarchat ab, sondern gleich auch mit inneren Dämonen wie Selbstzweifel und Impostor-Syndrom. Mit viel Kreativität, Glitter, und Ironie begibt sich Langlois auf eine Reise durch Drehbuchprobleme, Konkurrenzkämpfe und Fantasiewelten, in denen überinjizierte motorradfahrende Frauen Männer morden – durchwegs unterhaltsam und originell. Dieser Film wurde im internationalen Wettbewerb mit dem ‹Pardino d’argento SRG SSR› ausgezeichnet.

Schweizer Beiträge

Ein besonderes Augenmerk wert sind die zahlreichen Schweizer Beiträge in der Sektion ‹Pardi di domani›. Interessanterweise zieht sich auch hier ein Thema durch einige der Filme, und zwar ist dies Intimität. Während Nora Longatti in Chute hinterfragt, wie sich (körperliche) Nähe und menschliche Interaktionen zwischen Fremden aufbauen, begibt sich Naomi Pacifique in after a room in fast schon ungemütliche Intimitäten. In ihrem Film stellt sie sich nicht nur selbst aus, sondern begibt sich auch in eine reflexive Introspektion. Beide Regisseurinnen wurden im Rahmen des nationalen Wettbewerbs ausgezeichnet: Nora Longatti mit dem «Pardino d’oro Swiss Life» für den besten Kurzfilm und Naomi Pacifique mit dem ‹Pardino d’argento›.

Doch es laufen weitere Filme, die das Thema Intimität weiterführen, weg von rein menschlichen Beziehungen und hin zu anderen Arten der Verbindung: In Il faut fabriquer ses cadeaux präsentiert uns Cyril Schäublin eine Zukunftsvision, in der Intimität zwischen Menschen und Hologrammen aufgebaut wird. In den grauen Stadtbildern dieses Films lauert eine fast schon dystopisch wirkende Auseinandersetzung mit möglichen Zukunftsszenarien, in denen Menschen dafür Eintritt zahlen, um mit Hologrammen zu knutschen und gleichzeitig überlegen, wie sie ihre Gedanken am besten vor Maschinen schützen können. Auch der Dokumentarfilm in Ding von Pascale Egli und Aurelio Ghirardelli erweitert die Reflexion über Intimität: hier werden zwei Frauen portraitiert, die Liebesbeziehungen mit Objekten pflegen. Mit einem urteilsfreien Zugang lässt das Duo die beiden Frauen zu Worte kommen und hinterfragt so, was denn ein Objekt der Begierde sein kann und wie Intimität aufgebaut wird.

Erwähnenswert ist auch Es muss von Jumana Issa und Flavio Luca Marano, ein Film in gewohnter ZHdK-Ästhetik und mit überzeugendem Handwerk, der durch die hervorragende schauspielerische Leistung von Ruth Schwegler getragen wird. Der Film gewann in Locarno den ‹Best Swiss Newcomer Award›.

Auch in anderen Sektionen des Festivals vermochten Schweizer Filme einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Als besondere Perle erweist sich die Französisch-Schweizerisch-Niederländisch-Palästinensische Koproduktion in A Thousand Fires von Saeed Taji Farouky, die in der Sektion ‹Semaine de la critique› gezeigt wurde. Die ‹Semaine de la critique›, eine Festival-unabhängige Sektion, die jedes Jahr eine Selektion von Dokumentarfilmen zeigt, wurde dieses Jahr dem verstorbenen Journalisten und Festivalfreund Marco Zucchi gewidmet, in seinen Ehren wurde auch der Marco Zucchi-Award eingeführt. In A Thousand Fires begleitet eine meist statische Kamera eine myanmarische Familie von Ölproduzenten und beobachtet in abwechselnd klassisch dokumentarischen und poetischen, rein ästhetisch funktionierenden Sequenzen deren Alltag. Respektvoll und mit einer gewissen Zärtlichkeit dokumentiert der Film nicht nur die harte körperliche Arbeit der Familie und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Körper, sondern auch das Glück der kleinen Dinge und den Stellenwert kultureller und spiritueller Praktiken.

In der Sektion ‹Panorama Suisse› liefen selbstverständlich zahlreiche weitere Schweizer Filme. An dieser Stelle seien Güzin Kars Deine Strasse und Andrea Štakas Mare erwähnt. Güzin Kar überzeugt in ihrem Kurzfilm vor allem durch ihren grossen Willen, diesen Film umzusetzen – ein Ziel, dass sie komplett ohne Funding erreicht hat. Spannend sind die Überlegungen, welche die Regisseurin vor dem Screening ausführt: Was für Entscheidungen treffe ich, wenn ich alles selbst zahlen muss? Was kann ich umsetzen und worauf verzichte ich? Auf jeden Fall gelohnt hat sich das Engagieren von Sibylle Berg, deren Stimme im Voice Over den Film transportiert und ihm Höhen und Tiefen verleiht. An diesem sommerlichen Festivalsonntag kann Kar auch gleich eine sehr gute Nachricht mit dem Festivalpublikum teilen: Deine Strasse gewinnt am Indy Shorts International Film Festival den Grand Prize und ist folglich für die Academy Awards qualifiziert.

In Mare verfolgt Andrea Štaka eine Frau zwischen geregeltem, langweiligem Alltagsleben und leidenschaftlichen Ausbruchsfantasien, nur um sie schlussendlich zu enttäuschen und zurückzuführen zum Boden der Tatsachen. In sinnlichen, taktilen Bildern wird das Innenleben der Hauptfigur Mare (eine wunderbare Marija Škaričić) greifbar gemacht und anhand von bekannten Alltagsproblemen die Grenzen des Machbaren ausgelotet.

Auch im internationalen Wettbewerb lief dieses Jahr ein Schweizer Film: Soul of a Beast von Lorenz Merz. Während dieser Züri-Film auf ästhetischer Ebene sehr gelungen inszeniert ist und treffende Atmosphären zu transportieren vermag, hinterlassen einige der dramaturgischen Entscheidungen eine gewisse Unzufriedenheit. So zeigt sich vor allem gegen Ende, dass der Film sich damit schwertut, narrative Entscheide zu treffen, wodurch er es den Zuschauer_innen erschwert, sich gänzlich auf ihn einzulassen. Nichtsdestotrotz ist Soul of a Beast ein unterhaltsamer und stimmungsvoller Coming-of-age-Film, der in Locarno mit einer ‹Special Mention› gewürdigt wird.

Aufleben der Festivalaura

Das für mich persönlich tiefgehendste Filmerlebnis des diesjährigen Festivals und mein persönliches Highlight war zweifelsohne She Will der britischen Multimediakünstlerin und Regisseurin Charlotte Colbert. In dieser verstörenden und ermächtigenden Exploration von Trauma und Kraft überlagern sich zahlreiche Schichten, die Colbert gekonnt und ästhetisch gewaltig zusammenzuführen vermag. Auf einer feinen Linie zwischen Realismus und Übernatürlichem entsteht hier schlussendlich ein atmosphärisch dichtes und emotional packendes Filmerlebnis, in dem die Hauptdarstellerinnen Alice Krige und Kota Eberhardt brillieren können. Der Film wurde am Festival sehr verdientermassen mit dem ‹Swatch First Feature Award› ausgezeichnet.

Nach sieben Festivaltagen bleiben also eine Reihe sehr positiver Eindrücke zum nationalen und internationalen Kurzfilmschaffen, sowie auch ein paar einschneidende Langspielfilmerlebnisse. Aber vor allem bleibt die Lust nach mehr: Mehr Festivals, mehr Filme, mehr Publikum. Die Festivalaura lebt mit dieser Ausgabe definitiv auf und Locarno 74 beweist, dass auch die Corona-Restriktionen es nicht vermögen, dem Filmfestival Schaden zuzufügen – einzig finanziell hat sich die Übung wohl nicht gelohnt. Es bleibt die Hoffnung, dass nächstes Jahr nicht nur die Säle wieder gefüllt werden können, sondern auch das ganze Rahmenprogramm des Locarno Film Festivals wieder unter gewohnten Konditionen stattfinden kann.

Noemi Daugaard
*1990, studierte in Zürich Filmwissenschaft, Anglistik und Kunstgeschichte. Sie ist Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet in der Forschungsförderung.
(Stand: 2021)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]