NOEMI DAUGAARD

CHUTE (NORA LONGATTI)

Wiederholt fällt eine Frau in der Öffentlichkeit in Ohnmacht. Einige Passant_innen gehen an ihr vorbei, andere halten an, versuchen sie zu wecken, kaufen ihr Kaffee oder legen sich gar zu ihr hin und umarmen sie. In ihrem Kurzfilm Chute (Strangers) geht Nora Longatti der Frage nach, wie ein Sturz in einem öffentlichen, anonymen Raum zwischenmenschliche Beziehungen hervorbringen kann. Und tatsächlich entwickelt sich in diesem Film, zumindest körperlich, Nähe und Intimität zwischen Fremden, wenn auch das Gefühl bleibt, dass diese kaum die emotionalen Bedürfnisse der Menschen im Film befriedigen kann. Vor dem Hintergrund einer kalten, unpersönlichen städtischen Umgebung entfaltet sich eine Untersuchung von Einsamkeit und Verletzlichkeit.
 
Im Verlauf des Kurzfilms wird schnell klar, dass die junge Protagonistin (Fhunyue Gao) ihre Stürze nur inszeniert, wenn auch der genaue Grund dafür bis zuletzt unklar bleibt. Hier zeigt Longattis Film seine grösste Stärke: mit seinen Totalen, dem langsamen Rhythmus, dem grösstenteils reduzierten oder gar fehlenden Dialog und den anonymen Stadtbildern lässt der Film jede_r Zuschauer_in genügend Interpretationsspielraum. Der Film vermeidet es, die Zuschauer_innen zu stark zu führen und verwehrt jeglichen Einblick in das Innenleben der Figur und deren Motivationen, was den Betrachter_innen viel Raum gibt für eigene affektive, körperliche Reaktionen auf das Filmgeschehen. Longatti selbst erklärt in einem Statement, dass sie untersuchen wolle, wie Empathie zwischen Zuschauer_innen und Figuren ohne den Umweg über die Immersion entstehen kann. Zentrale Bedeutung nimmt dementsprechend der menschliche Körper ein, die Art und Weise wie er umfällt und inszeniert wird und seine Interaktion mit anderen, fremden Körpern in leeren Stadtbildern. Hier zahlt sich die sehr gute Führung durch die Regisseurin aus. Der menschliche Körper als Medium der Interaktion erlaubt es der Protagonistin nicht nur, sich mit anderen in Verbindung zu setzen, sondern auch, eins zu werden mit der städtischen Umgebung, in der sie sich inszeniert, wodurch gleichzeitig auch eine Reflexion über die grosse Fragilität des menschlichen Körpers im öffentlichen Raum angestossen wird.
 
Bereits 2019 wurde Longattis Kurzfilm Bloc B an den Kurzfilmtagen Winterthur als bester Schulfilm ausgezeichnet. Chute ist ihr Bachelorfilm, mit dem sie 2020 ihr Studium an der ECAL abschloss. Der Film feierte am 74. Locarno Film Festival Premiere und gewann im Rahmen des Wettbewerbs Pardi di domani den «Pardino d’oro Swiss Life» für den besten Schweizer Kurzfilm.
Noemi Daugaard
*1990, studierte in Zürich Filmwissenschaft, Anglistik und Kunstgeschichte. Sie ist Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet in der Forschungsförderung.
(Stand: 2021)
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