THOMAS HUNZIKER

J'AI ARRÊTÉ DE CARESSER LE CHIEN (LISA GERTSCH)

Unvorstellbar. Gespenstisch. Erdrückend. Nur einige der Adjektive, mit denen sich die Stimmung beschreiben lässt, nachdem im März 2020 der Bundesrat aufgrund der COVID-19-Pandemie die ‹ausserordentliche Lage› erklärte: Geschäfte geschlossen, Kulturleben eingestellt, Grenzen nur eingeschränkt passierbar. Wie sich diese Massnahmen ausgewirkt haben, hält Lisa Gertsch in ihrem dokumentarischen Kurzfilm J'ai arrêté de caresser le chien eindrücklich fest. In diesem intimen Tagebuch reiht sie körnige Bilder aus der Isolation aneinander und legt darüber ein knappes Dutzend nachdenkliche Stimmen von Freunden und Bekannten, die von ihrem Leben in der aussergewöhnlichen Situation berichten.
 
Die aufgrund ihrer Körnigkeit leicht bis stark rauschenden Bilder wirken wie Objets trouvés. Wenn die Glühbirne einer Deckenlampe an- und ausgeknipst wird oder das Wasser mal stärker oder schwächer ins Spülbecken plätschert entsteht der Eindruck von einem verspielten Experiment. Die wohl treffendsten Bilder für die Lage in der Lockdown-Krise findet Gertsch in den Aufnahmen von einem toten Käfer und direkt darauf folgend einer langsam davon kriechenden Schnecke. Von einem Tag auf den anderen wurde das Tempo aus dem Leben genommen. Versöhnlich wirkt dann die Schlussszene, in der zu verträumten Klavierklängen von Erik Satie ein Käfer davonfliegt.
 
Die gegensätzlichen Einstellungen zur unbekannten Situation spiegeln sich auch in den Stimmen auf der Tonspur wieder. Aus dem unterschiedlichen Stimmen klingt Verwunderung und Verzweiflung. Eine Freundin aus Berlin hat keine Arbeit und somit auch kein Einkommen mehr. Ein Mann ringt dem Lockdown etwas Positives ab: diese Langeweile hat er sich schon lange gewünscht, denn wenn man sich kognitiv zuballert, nütze man die Zeit schliesslich nicht. Daneben gibt es Glückwünsche zum Geburtstag, der ja trotzdem stattfindet, den Bericht von einer Sargaufbahrung aus Italien, und zwei Kinder streiten sich über ein Plüschtier. Ein wenig banaler Alltag in der Ausnahmesituation. Zum Schluss sinniert ein Regisseur über die Relevanz seiner aktuellen Drehbücher.
 
Die Bedeutung von J'ai arrêté de caresser le chien reicht weit über die eines filmischen Zeitdokuments hinaus. Lisa Gertsch kombiniert in ihrem Werk verschiedene Standpunkte und teilweise zufällig wirkende Ausschnitte aus dem Lockdown. Die teils sehr konkreten, teils aber auch mäandernden Gedanken der körperlosen Stimmen erzeugen eine beklemmende Stimmung, die Gertsch treffend mit zerbrechlichen Bildern ergänzt.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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