DORIS SENN

LA MIF (FRED BAILLIF)

La Mif wirft uns mitten ins Gemenge: Novinha macht Zoff, während ein anderes Mädchen mitten in der Nacht weggebracht wird. Es geht lautstark zu und her im engen Gang – Beschimpfungen, Drohgebärden, Handgreiflichkeiten. Dann setzt sanfte Bach-Musik ein... Wir sind in einem Heim, in dem Heranwachsende Zuflucht finden. Allesamt charakterstarke junge Persönlichkeiten, die aus ganz unterschiedlichen Gründen hier sind: sexueller Missbrauch, emotionale Vernachlässigung oder weil die Eltern plötzlich verstarben. Anhand von Kapiteln legt der Film den Fokus auf je eine der Bewohnerinnen und begleitet diese durch den Alltag: Audrey, Novinha, Précieuse, Caroline... Nicht zu vergessen Lora, die Leiterin des Heims, die als Angelpunkt für die Erzählstränge dient. Die Darstellerinnen sind Laiinnen und erzählen (auch) ihre eigene Geschichte. Nebst ihrer Verbundenheit untereinander, verstehen sie sich als «mif», nach einer in der französischen Jugendsprache verbreiteten Buchstabenverdrehung aus «famille». Die Handkamera bleibt nah bei den Protagonistinnen und macht so die Enge der Räumlichkeiten erlebbar. Dabei erlaubt sich der Film verschiedene Perspektiven auf dasselbe Ereignis, zeitliche Loops, hüpft vor und zurück, macht Überschneidungen – eine freche Montage, die La Mif viel Frische und Dynamik verleiht.
 
Der Genfer Regisseur, Fred Baillif, war Profi-Basketballer, DJ, Sozialarbeiter und ist als Filmer Autodidakt. Er kennt die Jugendkultur aus dem Effeff – der Stil des erfolgreichen Filmemachers ist der des Cinéma Vérité. So erarbeitete er für La Mif – nach mehreren Dokfilmen sein dritter Spielfilm – die Geschichten mit den Jugendlichen und liess sie ihre Figur über Workshops herauskristallisieren. Den Dreh realisierte er in nur zwei Wochen – mit viel Improvisation und minimalistischer Technik. Die Laiendarstellerinnen laufen alle zu Hochform auf und verknüpfen mit der Narration die Unmittelbarkeit des Dokumentarischen. Fern einer Reduktion auf eine Opfer- oder Heldinnenrolle erhalten die Figuren und mit ihnen die Geschichte eine grosse Tiefe und Komplexität. Was zu vielen nachdenklich-ruhigen, aber auch zu turbulenten Szenen von grosser Authentizität führt, die immer wieder ein Gegengewicht erhalten durch die eingespielte klassische Musik.
 
Seinen Film versteht Baillif, der auch das Drehbuch schrieb und das Editing machte, nicht zuletzt als «soziales Projekt»; Genre-Diskussionen interessieren ihn nicht. Und doch geht La Mif mit seinen filmischen Mitteln weit über das gesellschaftskritische Anliegen hinaus – und ist nichts weniger als ein grossartiges Porträt von Jugendlichen und ihrem schwierigen Weg ins Erwachsensein.
Doris Senn
Freie Filmjournalistin SVFJ, lebt in Zürich.
(Stand: 2021)
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