MILOŠ LAZOVIĆ

OSTROV – DIE VERLORENE INSEL (SVETLANA RODINA, LAURENT STOOP)

«Möchtest du auch mitkommen?» Mit dieser Frage an jemanden hinter der Kamera unterbricht Ivans Stimme die konventionell zusammengeschnittenen ruhigen Drohnenaufnahmen eines im Nebel gewickelten Leuchtturms, eines kleinen Dorfes am Meer und der kleinen Kuhherde auf einer kargen Weide. Er spricht die Kamera an, die kurz darauf einen ersten Blick auf sein faltiges Gesicht wirft. Ivan ist der Hauptprotagonist des ersten von Svetlana Rodina und Laurent Stoop gemeinsam auf einer abgelegenen russischen Insel im Kaspischen Meer gedrehten Dokumentarfilms mit dem Titel Ostrov - Die Verlorene Insel (CH, 2021). Er fährt uns in der darauffolgenden, etwas längeren Einstellung, auf dem Heck seines Motorbootes sitzend, Richtung Horizont, bis er dort die Küstenwache erblickt. Mit der Gefahr einer Verhaftung konfrontiert, kehrt er schliesslich mit wenigen Fischen auf die Insel zurück, wo die Zeit, genau so wie die Kamera des Regieduos, still zu stehen scheint.
 
Der Wind, der mal auf der Originaltonspur, mal bei komponierten Übergängen zwischen den Szenen zu hören ist, weht ununterbrochen durch die flache, sandige Landschaft mit zertrümmerten Denkmälern, ohne dabei einen Sandsturm zu verursachen. Der Sand und die Menschen auf der Insel halten trotz prekärer wirtschaftlicher Lage und trotz staatlichen Bestrebens, sie von der Insel zu vertreiben, an ihrem Boden fest. Während hunderte von Grashüpfern auf diesem flüchtig durch das Bild rasen, untersuchen die staatlichen Sicherheitskräfte die Häuser langsam und gründlich. Immer wieder geraten auch die Bewohner_innen der Insel in Bewegung, sei es beim Spielen, Feiern oder bei Motorradfahrten. Die Kamera bleibt jedoch immer still und filmt ihre Bewegungen aus der Ferne durch die Tür- oder Fensterrahmen. Damit unterstreicht die Kameraführung von Laurent Stoop auch visuell die Ausweglosigkeit, die im Verlauf des Filmes auch explizit von den Bewohner_innen besprochen wird.
 
Beim Aufnehmen ihrer Äusserungen und der Entrichtung diverser Alltagsaufgaben wartet die Kamera ganz im Stil von direct cinema geduldig darauf, dass sich die Gefühle und Gesten der Protagonist_innen im Bild offenbaren, bevor sie sich auf den Weg zur nächsten Miniatur begibt, die ihren Alltag schildern soll. Das Regieduo markiert dabei wiederholt seine Anwesenheit durch die synchrone Off-Stimme, welche sich punktuell an den Gesprächen beteiligt. Die bildästhetisch keineswegs überwältigende Filmarbeit, weist ihre Stärke aber gerade in dieser erfolgreichen und ungeschönten Wiedergabe der Existenzlage der Inselbewohner_innen auf. Durch die distanzierten, statischen und geduldigen Blicke und die punktuellen auditiven Achsensprünge kann hier eine Nähe, eine implizierende Distanz zu jenen Körpern, an welchen sich die Verwicklung der politischen Geschichte und Gegenwart Russlands mit der persönlichen Geschichte abzeichnet, erlangt werden, und dadurch die Erfahrung der Diktatur kritisch vermittelt werden.
Miloš Lazović
*1995, Studium der Philologie in Belgrad, Zürich, Poznań und Brno. Derzeit im Masterstudium an der Universität Zürich in den Fächern Kulturanalyse und Filmwissenschaft und Redaktionsmitglied des CINEMA Jahrbuchs.
(Stand: 2021)
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