ACHIM HÄTTICH

PRESQUE (BERNARD CAMPAN & ALEXANDRE JOLLIEN)

Im Parallelschnitt wird das Leben des geschiedenen Bestattungsunternehmers Louis (Bernard Campan) und des kognitiv beeinträchtigten Fahrradboten Igor (Alexandre Jollien) gezeigt. Louis passt in seinem Mercedes nicht auf, Igor wird von der Strasse abgedrängt, stürzt eine Böschung herunter. Trotz Zeitnot kümmert sich Louis um ihn und bringt ihn in seinem Leichenwagen ins Spital. Igor legt sich in einen Sarg, was Louis erst 120 Kilometer entfernt von Lausanne bemerkt. Richtig dreist, aber Igors umwerfende Art biegt alles zurecht und das Abenteuer kann als Roadmovie beginnen.
 
Der Film legt bei der Inszenierung dieser krassen Kontraste, wie hier zwischen dem Wohlhabenden und der diskriminierten Minderheit, eine spezielle Sorgfalt auf die realistische Inszenierung. Der Unternehmer Louis wird gleich als Heuchler entlarvt: dem atheistischen Kunden sagt er, dass er nicht an Gott glaubt, der gottesgläubigen Kundin sagt er, dass er an Gott glaubt. Bei Igor hupen die Autos, weil er langsam ist. Der mit vielen Büchern in einer verwahrlosten Wohnung lebende Igor sucht den Kontakt, der mit Absagen erwidert wird und die Vereinsamung behinderter Personen verdeutlicht. Igors Schwierigkeiten im Alltag sind zu sehen beim Essen, als er einen Kaffee herauslässt oder seiner Unsicherheit im ungewohnten Umfeld des Hotels. Dabei wird nichts beschönigt, aber auch nichts überstrapaziert. Denn gleichzeitig ist Igor selbstbewusst und weiss genau was er will, anders als der nachgebende Louis. So trifft Igor in Montpellier auf viele Frauen, wird gut aufgenommen und tanzt wie wild. Demgegenüber wird Louis weniger gut von den Frauen akzeptiert. In der eindrücklichsten Szene wartet auf Louis eine Prostituierte, Louis versagt, bei Igor klappt es, Igors Körper sei weder abstossend noch schmutzig. Es ist eine grosse Stärke des Filmes, dass diese Körperlichkeit in einer nicht kitschigen, aber auch nicht erotischen Szene zum Ausdruck kommt. Die komische Dynamik des Ensembles betont, wie eine Hand die andere wäscht: Louis kleidet Igor adrett ein, Igor haut Louis bei einer Polizeikontrolle raus. Cathy (Tiphaine Daviot) setzt sich gegen ihren Kollegen für Igor ein. Igor setzt sich dafür ein, dass Louis die stehengelassene Cathy mitnimmt.
 
Während das ständige Zitieren von Philosophen durch Igor etwas aufgesetzt wirkt, ist Presque insgesamt ein aufstellender, einfühlsamer und lustiger Film, der unprätentiös und frisch von der Leber inszeniert wurde, ohne dabei zum Buddymovie zu werden. Es kommt immer wieder zu Reibereien und kleineren Konflikten, wobei Igor klare Sympathiepunkte sammelt. Der ernsthafte, befreiende, unsentimentale und selbstironische Umgang mit Behinderung plädiert für ein versöhnliches Miteinander, selbst wenn Unterschiede wie Alter und soziale Schicht zahlreiche Reibungsflächen bieten. Igor ist gut integriert und für einmal wird er nicht mit Attributen belegt, die ihn letztendlich diskreditieren. Ein Wohlfühlfilm und der wohl beste Schweizer Film über Behinderung. Es ist schlicht toll, dass der tatsächlich behinderte Jollien die Hauptrolle spielt und die Co-Regie übernahm.
Achim Hättich
*1957, Dr. phil., studierte in Trier und Zürich Klinische Psychologie, Sozialpädagogik und Sozialpsychologie. Dozent und Projektleiter an Universität Duisburg, Universität Marburg, Universität Zürich, der HfH und ZHAW. Autor zahlreicher Bücher und Artikel über Film. Jury ZFF 2010 und Filmfest Schwerin 2015. Leitung des Filmzirkels, mehrere Jahre VSMitglied von Cineducation und Zürich für den Film.
(Stand: 2022)
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