SARAH STUTTE

TIDES (TIM FEHLBAUM)

Die Landekapsel Ulysses 2 steckt in Schwierigkeiten, bevor sie sicheren Boden erreichen kann. Die Kamera rattert wie ein Schrapnell durch das Innere der klaustrophobisch engen Kabine und fördert das Gefühl von Schwindel bis zur unvermeidlichen Bruchlandung. Von den drei Besatzungsmitgliedern an Bord ist einer sofort tot, der kommandierende Offizier verwundet und nur die junge Astronautin Louise Blake (charismatisch gespielt von Nora Arnezeder) entkommt unversehrt.
 
Gestartet war die Crew von der Weltraumkolonie Kepler aus. Dorthin flüchtete sich die herrschende Elite, nachdem eine globale Katastrophe die Erde nahezu unbewohnbar gemacht hatte. Zwei Generationen später gibt es aber auch dort Probleme, denn die Fortpflanzung stagniert in der trockenen und felsigen Umgebung des Exils. Anders auf dem früheren Heimatplaneten: Hier überfluten nun Gezeiten zweimal am Tag das Land. Einige Menschen überlebten und konnten sich an die unwirtlichen Bedingungen anpassen.
 
Der Film wird von der Protagonistin Louise getragen, die aufgrund dieser dystopischen Ausgangslage zu einem Erkundungsflug zur Erde geschickt wird. Sie soll herausfinden, ob es eine Chance gibt, dorthin zurückzukehren, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Insgeheim ist sie aber auch auf einer persönlichen Mission. Sie sucht ihren verschollenen Vater, der seinerzeit zur Besatzung des ersten Fluges zur Erde gehörte, zu der jedoch der Kontakt aus unerfindlichen Gründen abgebrochen ist. Auf sich allein gestellt, erkundet Louise nun das gespenstische Watt, das alles ist, was von der unendlich vielfältigen und fruchtbaren Erde übriggeblieben ist. Die schuppigen Schlickflächen verdecken durch ihre dumpfe Unsichtbarkeit die unmittelbaren Gefahren. Durch ihre Begegnung mit der geheimnisvollen Narvik (Sarah-Sofie Boussnina) gerät Louise schon bald in einen Kampf zwischen zwei rivalisierenden Gemeinschaften. Sie wird gefangen genommen und findet sich in einer Festung wider, wo sie auf einen alten Kollegen ihres Vaters (Iain Glen) und dessen brutalen Gehilfen Paling (Joel Basman) trifft.
 
Knapp zehn Jahre nach seinem stimmigen Erstlingsfilm Hell (2011) visualisiert der Basler Regisseur Tim Fehlbaum mit seinem englischsprachigen Debüt wiederum eine temporeiche und kluge Dystopie. Abermals ist hier auch Roland Emmerich als ausführender Produzent mit an Bord. Mit zahlreichen Wendungen versucht die Geschichte, die Spannung aufrecht zu erhalten. Fehlbaums Gespür für eindrucksvolle Inszenierungen kommt jedoch vor allem in den grossformatigen, atmosphärischen Bildern zur Geltung, die durch Kameramann Markus Förderer sowie das Szenenbild von Julian R. Wagner perfekt umgesetzt werden.
 
Die Inszenierung des Widerstreits unterschiedlicher Kräfte ziehen sich konsequent durch den Film. Eine erdige Farbpalette und ein glühend schlammiger Himmel verbindet die endlosen, in Nebel gehüllten Wattflächen miteinander. Gleichzeitig wird für beide Lebenswelten ein unterschiedliches Umfeld geschaffen. Das schwimmende Fischerdorf der sogenannten «Muds» verweist auf die bäuerlich-traditionelle Einfachheit und ein Leben im Einklang mit der Natur. Dagegen trotzt die massige, militaristisch geführte Kepler-Basis, die sich im Rumpf eines Schiffswracks befindet, den Wassermassen trotzt und versucht, dem Chaos eine Ordnung aufzuzwingen.
 
Diese zugespitzten Kontraste schlagen sich jedoch nicht nur im fantastischen Design nieder, sondern auch in der Filmmusik. Während in den Kepler-Szenen ein elektronisches Motiv dominiert, untermalen die sanfteren, organischeren Klänge das «Mud»-Universum. Obwohl die Handlung – insbesondere die Vater-Tochter-Story – etwas schematisch bleibt, könnte die Botschaft des Films angesichts aktueller Klimadebatten nicht deutlicher sein. Geben wir nicht auf unsere natürlichen Ressourcen acht, wird das Leben, wie wir es kennen, bald der Geschichte angehören.
 
Am Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) 2021 wurde Tides mit zwei Preisen ausgezeichnet: demjenigen für das beste Produktionsdesign und dem Publikumspreis.
Sarah Stutte
*1977, studierte Journalistik, Literarisches Schreiben und Drehbuch in Zürich. Schreibt für zahlreiche Print- und Onlinemagazine im In- und Ausland sowie Booklet-Texte für deutsche Labels. Seit 2015 Mitglied des SVFJ. Jury NIFFF 2015, ZFF 2017, Black Movie Genf und
Locarno 2022. Festes Mitglied im Team des Kino Nische Winterthur.
(Stand: 2022)
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