SIMON MEIER

DRII WINTER (MICHAEL KOCH)

Eine ablegende Alp in den Urner Alpen, wo die Hektik der globalisierten Welt noch nicht Einzug gehalten hat: Hier leben Anna (Michèle Brand) und der stämmige Marco (Simon Wisler). Er ursprünglich ein Flachländer, wie ihn die Eingesessenen am Stammtisch nennen, sie im Dorf geboren und mit einer Tochter aus einer früheren Beziehung. Das Paar kommt mit nur wenig Worten aus, vor allem Marco scheint von Natur aus ein schweigsamer Typ zu sein. Sie heiraten. Kurz danach wird bei Marco nach einem Motorradunfall und einer eigentlich routinemässigen Untersuchung ein Gehirntumor diagnostiziert. Der Tumor ist in genau jener Hirnregion gewachsen, in der die Impulskontrolle gesteuert wird. Obwohl der Tumor gleich nach der Diagnose entfernt werden kann, weist Marco ein immer ungehemmteres Verhalten auf, vor allem bei seinem Sexualtrieb.
 
Michael Koch erzählt das Drama um einen Bauern, der unfreiwillig zum Unangepassten wird, und in der eng verbandelten Berggemeinschaft schon bald keinen Platz mehr findet, in langsamen, statischen, dafür genau beobachtenden Einstellungen. Der Film scheint den Rhythmus der Bergwelt und der Natur zu spiegeln. Man sieht Anna bei ihrer Arbeit als Pöstlerin beim Ausliefern der Briefe und als Kellnerin in der Dorfkneippe, Marco bei der Arbeit auf dem Feld und im Stall. Durch das Normalbildformat wirkt die eigentlich weite Berglandschaft und das Geschehen beengt: Freigeistig scheinen hier oben nur wenige zu sein, gelacht wird selten, dafür umso mehr geschwiegen. In die Handlung eingestreut montiert Koch inszenierte Auftritte eines Chors, der, in Tracht gekleidet, Volkslieder zum Besten gibt.
 
Wie schon in Fredi Murers Höhenfeuer (CH 1985) gelingt es Koch, ein Tabuthema in das vermeintlich idyllische alpine Setting einzubetten. Koch hingegen liess sich für seinen Film von wahren Begebenheiten inspirieren und inszeniert die restliche Dorfgemeinschaft gekonnt mit Laiendarsteller_innen. Die Symbolik der Bergwelt, die das Geschehen auf verschiedenen Ebenen spiegelt, findet sich aber auch hier: Marco selbst bringt eine kranke Kuh, die keine Kälber mehr kriegt, zum Schlachthof. Die Bergwelt, mit ihrem von der Natur vorgegebenen Rhythmus, nimmt auf Schicksalsschläge keine Rücksicht: So hat auch der Bauer, bei dem Marco angestellt ist, rasch einen Ersatz für ihn organsiert. Die Arbeit auf dem Feld und im Stall muss weiter gehen.
 
Drii Winter – der im Wettbewerb der Berlinale Premiere feierte – portraitiert ungeschminkt das bäuerliche Leben auf einer abgelegenen Alp mit ihren urchigen, unverfälschten Bewohnern. Auch wenn sich gelegentlich aufgrund des sehr langsamen Erzählrhythmus und der Chorsequenzen Momente von temps mort einstellen, überzeugt der Film durch seine Authentizität und seine ungewohnte, asketische Erzählweise.
Simon Meier
*1986, Studium der Kunstgeschichte, Filmwissenschaft und Ethnologie an der Universität Zürich. Längere Sprach- und Forschungsaufenthalte in Louisiana und Neuseeland. Arbeitet als Bildredaktor bei Keystone-SDA. Seit 2011 Mitglied der CINEMA-Redaktion. www.palimpsest.ch
(Stand: 2021)
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