THOMAS HUNZIKER

ÉCORCE (SAMUEL PATTHEY, SILVAN MONNEY)

Gemächlich schwebt die Kamera einem fein strukturierten Papier entlang. Allmählich werden Linien ersichtlich, die an eine Baumrinde (frz. écorce) erinnern. Eine schemenhaft erkennbare dunkle Figur bewegt sich hin und her. Autos rasen über eine Autobahnbrücke. Bäume im Wald. Ein mit leeren Flaschen gefüllter Abfallsack. Ein paar Tische und Stühle in einem Skizzenheft. Eine Katze sitzt dazwischen, ein Stuhl fällt um. Futuristisch anmutende Geräte. Ein Gebäude mit vielen Fenstern. Hinter einem Fenster bewegt sich eine Frau. Dann der Titel des Films.
 
Die ersten Eindrücke des Animationsfilms Écorce sind stark fragmentiert, geben Rätsel auf. In welchem Zusammenhang stehen diese Bilder, falls es überhaupt einen gibt? Erst nach diesem stark zerstückelten Auftakt wird ersichtlich, dass die beiden Filmemacher Samuel Patthey und Silvain Monney subtile Impressionen aus der Umgebung eines Alterswohnheims eingefangen haben. Zerbrechliche Hände mit Alarmknopf am Handgelenk, fernes Stimmengewirr, Menschen an Gehhilfen, ein im Sessel schnarchender Mann, in Kaffeetassen klimpernde Löffel. Das Tempo wird durch die langsame Fortbewegung der Figuren bestimmt. Einzig die regelmässig auftauchende schwarze Katze und manchmal auch das Personal bewegen sich gelegentlich ein wenig schneller. Dazwischen reihen Patthey und Monney immer wieder Bilder aus dem trostlos anmutenden Alltag aneinander: Becherchen mit Medikamenten, ein tropfender Wasserhahn, eingerahmt von Seife und Desinfektionsmittel, säuberlich neben der Reinigungsmaschine aufgehängte Bettpfannen.
 
Pathey und Monney machen durch die diskrete Inszenierung auch die Art und Weise erkennbar, wie sie ihre Beobachtungen in Skizzenbüchern eingefangen haben. Manche Szenen darin sind sehr ausführlich illustriert, andere beschränken sich auf wenige markante Striche. Dann wieder reihen sich verschiedene Ansichten des gleichen Ausschnitts nebeneinander.
 
Der dokumentarische Animationsfilm Écorce besticht durch eine entspannte Annäherung an die Menschen im Alterswohnheim. Dadurch behalten die lückenhaften Zeichnungen einerseits eine gewisse Distanz bei, andererseits ermöglichen sie eben gerade auf diese Weise eine Intimität der Details. Durch die Abstraktion wird der Blick auf leicht zu übersehende Kleinigkeiten gelenkt, die dadurch eine ungewohnte Schärfe erhalten. Diese meisterliche Reduktion aufs Notwendigste brachte den beiden Filmemachern zahlreiche Auszeichnungen ein, unter anderen den Publikumspreis und dem Preis für den besten Schweizer Animationsfilm am Fantoche 2021.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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