BETTINA SPOERRI

ZAHORÍ (MARÍ ALESSANDRINI)

Die 13-jährige Mora (Lara Tortosa) lebt mit ihrem jüngeren Bruder Himeko (Cirilo Wesley) und ihren Eltern an einem abgelegenen Ort mitten in der Steppe Patagoniens. Aus der italienischen Schweiz sind die Erwachsenen mit den Kindern nach Argentinien in die Wildnis gezogen, um hier ein ziemlich aussichtsloses ökologisches Selbsternährer-Projekt umzusetzen: das Züchten von Gemüse in der staubigen Landschaft. Bei ihren Eltern (gespielt von Sabine Timoteo und Pablo Lumarzi) erlebt sie in erster Linie Einschränkungen, Streit und für sie unverständliche asketische Regeln. Die Mutter zwingt sie sogar, ihr geschenkte Fische zu begraben, statt die hier seltene Delikatesse geniessen zu dürfen. Im Kontrast dazu findet Mora bei den Gauchos und dem alten Nazareno (Santos Curapril), der allein in einer einfachen Hütte lebt, Gelassenheit und die Nähe zu Natur und Tieren. Eines Tages kulminiert dieser Konflikt in Mora, als sich Nazarenos schöne weisse Stute Zahorí aus Angst bei einem Gewitter von ihrem Weideplatz losreisst und wild durch die Steppe rennt. Mora entschliesst sich, das Pferd für Nazareno wiederzufinden. Die Suche wird zu einer Art Initiationsreise und einer Begegnung mit dem Tod, die sie erwachsen werden lässt.
 
Die argentinische Filmautorin Marí Alessandrini mit Jahrgang 1979 ist selbst in Patagonien aufgewachsen und kam in die Schweiz, um hier in Genf an der HEAD zu studieren. Dies ist ihr erster Langspielfilm, nach einigen Kurz- und Dokumentarfilmen, die sie seit 2008 realisiert hat; er brachte ihr eine Festivaltour und unter anderem sowohl den vielbeachteten Cinéastes du Présent-Pardo in Locarno als auch den Best First Film Prize am India International Film Festival ein. Die gleissende Steppe, durch die der trockene Wind zieht, die weite, helle Einsamkeit, die topografischen Zerklüftungen, aber auch die traumartigen, leuchtenden Nächte mit ihren Klängen und Erscheinungen spielen in diesem Film die Hauptrolle, und der Film gibt ihnen ihren Raum – in wunderbar eindrücklichen und lange nachwirkenden Bildern (die Kamera führte der ebenfalls 1979 geborene Genfer Joakim Chardonnens). Zahorí gelingt es auf diese Weise, eine zugleich realistische und mystische Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, die in der Tradition des argentinischen Kinos steht und diese Tradition doch auch immer wieder mit eigenen Elementen selbstbewusst zu durchbrechen weiss. Dazu gehört eine da und dort gekonnt gesetzte Note von Humor – wie insbesondere der skurrile Auftritt der beiden verschwitzten amerikanischen «soldados del señor», die in weissen Hemden, schwarzen Hosen und schwarz-weiss gestreiften Krawatten durch die Einöde stapfen und dem Staub, der Hitze und ihrer Orientierungslosigkeit stoisch zu trotzen versuchen.
Bettina Spoerri
*1968, Dr. phil., studierte in Zürich, Berlin und Paris Germanistik, Philosophie, Theater- und Filmwissenschaften, danach Dozentin an Universitäten, der ETH, an der F&F. Begann 1998, als freie Filmkritikerin zu arbeiten und war Redaktorin (Film/Theater/Literatur) bei der NZZ. Mitglied Auswahlkommission FIFF 2010–12, Internat. Jury Fantoche 2013, mehrere Jahre VS-Mitglied der Filmjournalisten, Mitglied bei der Schweizer Filmakademie. Freie Schriftstellerin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses. CINEMA-Redaktorin 2010–2017, heute Mitglied des CINEMA-Vorstands. www.seismograf.ch.
(Stand: 2021)
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