SARAH STUTTE

YABAN (TAREQ DAOUD)

Einst erhoffte sich die französische Auswanderin Claire in der Nordwesttürkei ein neues Zuhause. Nun ist sie zusammen mit ihrer 9-jährigen Tochter Sabrina auf der Flucht. Zuvor hat Claire das Sorgerecht an ihren türkischen Ex-Mann – eine lokale Berühmtheit – verloren. Sie bezahlt den Schmuggler Osman, um mit Sabrina zu Fuss die Grenze nach Bulgarien zu überqueren. Doch unterwegs in einem Tross mit weiteren Flüchtlingen wird Osman von seinem Chef Erkan zurückgepfiffen, weil dieser von der Kindesentführung Wind bekommen hat und glaubt, dass ihm das Wissen darum mehr Profit einbringt.
 
Erstmal werden Claire und Sabrina von Erkan in einem heruntergekommenen Haus an einem Berghang untergebracht und dort mit dem Versprechen zurückgelassen, sie bald abzuholen. In den folgenden Tagen sind Mutter und Tochter auf sich allein gestellt. Sie gewöhnen sich an ihr neues Zuhause und beginnen, den nahegelegenen Wald zu erkunden. Für Sabrina ist das Ganze ein Abenteuer, doch nach und nach gehen die Vorräte zur Neige und Osman ist noch nicht wieder aufgetaucht.
 
Dieser kämpft in der Zwischenzeit mit seinem Gewissen und ringt mit der Entscheidung, sich gegen den Auftraggeber zu stellen und der Frau und ihrem Kind zu helfen. Claire jedoch hat keine Zeit länger zu warten und versucht deshalb, sich mit Sabrina auf eigene Faust durch das unbekannte Gebiet zu schlagen – was aber scheitert. Zurück in der Hütte wirken sich Angst und Isolation immer negativer auf die verzweifelte Mutter aus. Sie verliert allmählich den Bezug zur Realität.
 
Die türkisch-schweizerisch-französische Co-Produktion offenbart anhand des Motivs der Medea-Sage aus der griechischen Mythologie verschiedene Abhängigkeitsverhältnisse und Machtstrukturen in der heutigen Türkei. Regisseur Tareq Daoud, der 1976 in Kabul geboren ist, in Genf und auf Kuba studierte und heute in der Schweiz lebt, spricht Themen wie die Flüchtlingssituation, missbräuchliche Beziehungen, kulturelle Unterschiede und patriarchale Rollenverteilung sowie nicht zuletzt daraus resultierende psychische Erkrankungen an.
 
Yaban wird von der Leistung der britisch-französischen Schauspielerin Amira Casar getragen, die in ihrer Rolle als verzweifelte, kämpferische Mutter überzeugt, deren liebevolle Fürsorge nach und nach in etwas Unbehagliches kippt. Casar, die sowohl kurdische als auch russische Wurzeln hat, spielte unter anderem an der Seite von Timothée Chalamet in Call Me by Your Name (Luca Guadagnino, FR 2017) und ist auch im Fernsehen und Theater zuhause.
 
Durch den Wald und die verlassene Hütte schafft Tareq Daoud in seinem ersten Langfilm Elemente der psychologischen Spannung und durch gut gedrehte Albtraumszenen eine unheimliche Atmosphäre. Dazu trägt auch die clever verschachtelte Inszenierung bei, die gekonnt mit den jeweiligen Perspektiven spielt und dabei stets die Richtung der Erzählung ändert. Der Schluss-Twist ist deshalb umso überraschender und wirkt noch eine Zeit lang nach.
 
Sarah Stutte
*1977, studierte Journalistik, Literarisches Schreiben und Drehbuch in Zürich. Schreibt für zahlreiche Print- und Onlinemagazine im In- und Ausland sowie Booklet-Texte für deutsche Labels. Seit 2015 Mitglied des SVFJ. Jury NIFFF 2015, ZFF 2017, Black Movie Genf und
Locarno 2022. Festes Mitglied im Team des Kino Nische Winterthur.
(Stand: 2022)
[© cinemabuch – seit über 60 Jahren mit Beiträgen zum Schweizer Film  ]