JACQUELINE MAURER

DE HUMANI CORPORIS FABRICA (VERENA PARAVEL, LUCIEN CASTAING-TAYLOR)

Während in der Renaissance der Anatom und Chirurg Andreas Vesalius mit De humani corporis fabrica sieben Bücher über den Aufbau des menschlichen Körpers geschaffen hat, zeigen uns Verena Paravel und Lucien Castaing-Taylor mit ihrem gleich betitelten Dokumentarfilm das Innenleben von rund 15 Spitälern in oder nahe Paris. Ihr Dokumentarfilm dringt, buchstäblich, in den heutigen Spitalkörper und die darin operierenden und operierten Menschen ein. Die zwei Stunden sind nichts für schwache (Seh-)Nerven, denn die Bilder, die wir sonst nie zu Gesicht bekommen und nur in den Köpfen des Spitalpersonals verbleiben, sind sehr explizit.
 
Der Film beginnt mit vorerst unkenntlichen Nahaufnahmen und einem gleichmässigen Geräusch. Diese Art der Heranführung an ein Phänomen, das im Verlauf des Films teilweise unkenntlich bleibt, erweist sich als typisch für die hier gewählte Erzählweise des Regieduos. In der Anfangssequenz wird aufgedeckt, was wir sehen. Wir folgen einem Hund, der den Wachmann durch den Krankenhauskeller begleitet. Solche wiederkehrenden Kontrollgänge des Sicherheitspersonals rhythmisieren De humani corporis fabrica und lassen die Zuschauenden kurz durchatmen. Denn was ihnen zugemutet wird, sorgt für verzerrte Gesichter: Da sind verwirrte Pflegeheimbewohner_innen, Aufnahmen von Operationen, etwa am Kopf, am Auge oder am schwangeren Bauch, das Bekleiden von Verstorbenen und wiederholte Endoskop-Aufnahmen. Genau wie diese filmischen Eingriffe, die durch unbekannte Innenwelten führen, ist die Kamera ausserhalb der Körper eine auffällig bewegte, was für eine verstärkte Unmittelbarkeit des Gezeigten sorgt. Alles ist zu sehen, ein Kaiserschnitt genauso wie eine Penisoperation, während der behandelnde Arzt sich über Planungsprobleme beschwert. Als während einer Operation plötzlich Urin aus dem Glied läuft, reagiert er lakonisch mit: «C’est physique, cette merde, quoi?!».
 
‹Physisch› ist ein Stichwort, das den mutigen, unkommentierten Dokumentarfilm De humani corporis fabrica auf inhaltlicher wie filmischer Ebene passend beschreibt. Abrupte Schwarzbilder wechseln zu anderen Szenerien, zu denen manchmal zurückgekehrt wird, was einem sanften Erzählstrang gleicht. Krass ist hingegen das Gezeigte, das, so die Filmschaffenden Paravel und Castaing-Taylor, sonst im Spital oder Pflegeheim bleibt und von der Gesellschaft tabuisiert wird. Deshalb ist es nicht nur mutig, was die Regisseur_innen geschaffen haben, sondern gleichwohl auch nötig, diese Aspekte des Lebens und der medizinischen Arbeit – die selbst Bilder generiert, um sehen zu können – zu zeigen.
Jacqueline Maurer

(Stand: 2022)
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