NOEMI DAUGAARD

THE DNA OF DIGNITY (JAN BAUMGARTNER)

In Bosnien-Herzegowina werden noch heute 11'000 Menschen vermisst. The DNA of Dignity nimmt die Zuschauenden mit auf Spurensuche: durch verlassene Wälder zu Massengräbern und ins forensische Labor wird die Arbeit eines Teams der «Internationalen Kommission für vermisste Personen» (ICMP) begleitet. Zwischen Hoffnung und Ernüchterung versuchen die Expert_innen, den Angehörigen der Vermissten Gewissheit zu verschaffen.
 
An der Semaine de la critique in Locarno, wo der zum grössten Teil selbst finanzierte und produzierte Film seine Weltpremiere hatte, betonte Regisseur Jan Baumgartner, dass es sich hierbei um einen absichtsvoll stillen Film mit intensiven Bildern handelt. Tatsächlich werden die Zuschauenden wiederholt mit Bildern von menschlichen Überresten konfrontiert, von Gebeinen und Kleidern bis hin zu zahlreichen kleinen persönlichen Objekten. Bedrückt schauen wir zu, wie Proben für die Laboranalysen vorbereitet werden und wie all diese Objekte in anonymen Säcken verschwinden – die Reste einer menschlichen Existenz reduziert auf eine Plastiktüte, auf DNA und Labordisplays mit Zahlen und Grafiken. Fast beunruhigender sind jedoch die wiederholten und wunderschön stimmungsvollen Dronenaufnahmen der bosnischen Wälder, da man keine Gräber sieht und doch weiss, irgendwo da sind sie. Es stellt sich die Frage, was schlimmer ist: etwas zu finden, oder nichts zu finden.
 
Zusammengehalten werden die verschiedenen Elemente – Drohnenaufnahmen, Ausgrabungs- und Laborarbeiten, Aufnahmen von Objekten und Stimmen von Überlebenden sowie eine fiktionalisierte Mutterfigur – einerseits durch den gekonnten Stimmungsaufbau und die überzeugende Soundkulisse. Andererseits trägt auch das Voice-Over zur Kohäsion bei und fällt dabei positiv auf, ist nicht belehrend und trotzdem informativ.
 
So wird die Spurensuche nach menschlichen Überresten auch zu einer Spurensuche nach filmischen Möglichkeiten, den Gräuel darzustellen und die teilweise fliessenden Grenzen zwischen Schaulust, Dokumentation und Menschenwürde, Empathie und plumpem auf die Tränendrüse drücken auszuloten. Ebenso stellen sich Fragen bezüglich des Einsatzes bestimmter gestalterischer Mittel: Was löst es aus, wenn Aufnahmen von Häufchen menschlicher Überreste in poetischen Einstellungen und mit stimmungsvoller Soundkulisse präsentiert werden? Was passiert, wenn wir Massengräber mittels ästhetisierten Drohnenbildern abbilden?
 
The DNA of Dignity vermag dafür vielleicht keine abschliessende Lösungen zu bieten, nichtsdestotrotz stellt er eine gelungene Auseinandersetzung mit diesen Fragen dar und ist ausserdem ein wichtiges Dokument über die Konsequenzen eines Krieges, der immer noch zahlreiche Lebensrealitäten mitbestimmt.
Noemi Daugaard
*1990, studierte in Zürich Filmwissenschaft, Anglistik und Kunstgeschichte. Sie ist Doktorandin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet in der Forschungsförderung.
(Stand: 2021)
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