THOMAS HUNZIKER

GIUSEPPE (ISABELLE FAVEZ)

Die Tiere in den Animationsfilmen von Isabelle Favez leben für gewöhnlich gefährlich. Ganz nach dem Motto «Fressen und gefressen werden» müssen sie meist um ihr Leben fürchten. Wie etwa die Katze und der Jagdhund in Tarte aux pommes (CH 2006), die beiden Hasen, die Maus und die Eule in Au cœur de l’hiver (CH 2012) oder die Katze, der Fisch und der Vogel in Messages dans l’air (CH 2015). Etwas weniger bedrohlich ist nun das Szenario im 26-minütigen Märchen Giuseppe, in dem sich ein junger Igel aus dem Winterschlaf wagt.
 
Gerade noch tollt der kleine Igel Giuseppe durch das bunte Herbstlaub. Doch bald schon ist es Zeit für ihn, sich in den Winterschlaf zu verabschieden. Darauf freut er sich überhaupt nicht, denn seine Hasen-Freundin Ayana und ihr kleiner Bruder Toto schwärmen bereits von den Abenteuern im Schnee. Die Eltern von Giuseppe warnen den kleinen Igel zwar noch vor dem gefrässigen Geist des Winters, doch sein Entschluss steht schon fest: Den Winter will er auf keinen Fall verpassen. Heimlich stellt er seinen Frühlingswecker auf Mitte Winter vor. Doch was für eine Enttäuschung, als er dann schläfrig vor die Türe tritt: Keine einzige Schneeflocke ist zu sehen. So machen sich Giuseppe, Ayana und Toto auf die Suche nach dem Geist des Winters. Dabei treffen sie auf eine hungrige Füchsin, einen schläfrigen Bären und einen vermissten Bieber.
 
Die Regisseurin hat mich darauf hingewiesen, dass sich der Film an ein junges Publikum von 3- bis 6-Jährigen richtet. Die Tiere sind dann auch sehr süss gestaltet, und die Handlung von Favez und Pierre-Luc Granjon ist mehrheitlich niedlich. Doch das Werk weist durchaus Ecken und Kanten auf. Ganz so harmlos ist die Geschichte dann nämlich auch wieder nicht. Amüsant bedrohlich sind eine als Hexe bezeichnete Bieberin oder die hungrige Füchsin. Doch in den Bergen, wo die Tierkinder den Geist des Winters suchen, wartet ein gefrässiger Adler auf Nahrung. Da wechselt dann die teilweise ein wenig aufdringlich heitere Musik für einen ganz kurzen Moment zu düsteren Tönen. Zwischendurch blitzt auch der aus den anderen Filmen von Favez vertraut verschrobene Humor auf. Insbesondere der schläfrige Bär ist ein köstlicher Einfall.
 
Favez bleibt ihrem gewohnten Animationsstil treu, der an ihre frühen Filme mit ausgeschnittenen Flachfiguren erinnert. Die collagenähnlichen Gestalten mit ihren klaren Konturen sind allerdings mittlerweile durch die 2-D-Computeranimation bedeutend variabler gestaltet. Insbesondere das Stachelkleid von Giuseppe lässt viel Detailreichtum erkennen. So gibt es in Giuseppe auch für Erwachsene viel Entzückendes zu entdecken.
Thomas Hunziker
*1975, Studium der Filmwissenschaft, Anglistik und Geschichte an der Universität Zürich. Er arbeitet als Radiologiefachmann und betreibt das Filmtagebuch filmsprung.ch. Mit seiner Partnerin und zwei Kindern lebt er in Schaffhausen.
(Stand: 2021)

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