JEAN PERRET

J’AI ÉNORMÉMENT DORMI (CLARA ALLOING)

Sie arbeiteten beide zusammen engagiert an Ansätzen, um eine Architektur zu errichten, die ihre Begegnung erzählen kann. Die 30-jährige Johanna Monnier ist Bildhauerin, die 32-jährige Clara Alloing Filmemacherin. Und so ist das Porträt der Künstlerin gleichzeitig ein Porträt der Filmemacherin, die immer wieder neue Szenen erfindet, um die Fülle an Bedeutungen zu hinterfragen. Im Film verstecken sich viele kleine Komödien, unerwartete Momente, irrwitzige Verkleidungen aus bunten Stoffen und Plastik, Hütten aus Stoffen und Gesten in der freien Natur. Die sexuelle Dimension dieser Experimente ist dabei nicht zu übersehen, wenn Johanna Monnier in eine Vagina eindringt, die aussen mit Schuppen bedeckt und innen mit prallen Vorhängen in warmen rosa-roten Farben ausgekleidet ist. Die Bildhauerin Monnier erweist sich dabei als Schneiderin mit beeindruckendem Einfallsreichtum. So zieht sie im Film auch einen ellenlangen Schwanz hinter sich her, dessen Stoff während eines Duells zwischen ihr und einem Mann zu zerreissen droht. Diese Spannung stellt ein wiederkehrendes Thema dar, von dem der Film zeugt und das sich auf der Ebene der menschlichen Beziehungen zeigt. Es zeigt sich beispielsweise im Misstrauen der Bildhauerin, wenn sie sich auf humorvolle Weise über ihren Partner lustig macht, indem sie ihn als Ritter verkleidet und ihm ein blaues Pulver ins Gesicht bläst, um ihn zu blenden. Diese Distanz scheint unüberbrückbar, als sie sich in einer erschreckenden Szene Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Der Film ist ein Gemälde voller verrückter und zugleich allzu realer Fantasien.
 
Clara Alloings Stil ist geprägt vom Dreh auf Film mit einer 16-Milimeter-Bolex, wobei sie gänzlich auf jeglichen synchronen Ton verzichtet hat. Sie erweist sich dabei als wahrhaftige Klangmeisterin, die dem Film eine bemerkenswerte Fluidität verschafft, indem sie den Bildern ihre Autonomie und den Klängen ihren freien Lauf lässt. Es ist, wie Johanna Monnier selbst sagt, ein doppelter Reichtum, visuell und akustisch, der J’ai énormément dormi ausmacht. Die Bilder und der Schnitt verleihen den Landschaften und Körpern eine Tiefe, aus der eine Erzählung entspringt, die sich von jeder expliziten Linearität emanzipiert hat. Der Film ist zwar strukturiert, allerdings in einer Art, in der sich der Reichtum des Schaffens der Bildhauerin vor dem Hintergrund ihrer psychologischen und affektiven Beweggründe allmählich entfalten kann. Johanna Monniers Talent, intim und zugleich mit einer Leidenschaft für die Sprache zu erzählen, ist ein Geschenk, für das Clara Alloing mit dem Film eine kostbare Schatulle geschaffen hat. Und so bilden die Kreationen von Johanna Monnier und Clara Alloing einen gemeinsamen Körper. Sie haben sich aneinandergeschmiegt, indem sie bei sich und der Welt sind und damit die Einsamkeiten der Gegenwart beschwören.
Jean Perret
Jean Perret, geboren 1952 in Paris, in Genf etabliert, ist als Autor von zahlreichen Publikationen bekannt, gibt Seminare und Kurse sowohl in der Schweiz wie im Ausland über Semiotik, Ästhetik, Gesellschaft und "cinéma et photographie du réel". Leitet 16 Jahre das Festival „Visions du Réel“ in Nyon, dann ab 2010 das Département Cinéma / cinéma du réel in der Haute École d'Art et de Design in Genf. Heute Mitglied der Redaktionen der online Filmzeitschrift www.filmexplorer.ch und des Kulturmagazins La Couleur des Jours (www.lacouleurdesjours.ch ).
(Stand: 2019)
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