JEAN PERRET

THE WONDER WAY (EMMANUELLE ANTILLE)

Welch Feinfühligkeit, mit der Emmanuelle Antille mit Transparentpapier die von ihrer Grossmutter in 52 Heften verfassten Worte kopiert, die von kleinen Details aus deren Alltag erzählen. Buchstaben und Worte, die die Filmemacherin zu ihren macht, um ihre Gedanken zu schreiben, mit denen sie sich entlang ihres Wonder Way beschäftigt. Die Ahnin hat Schätze hinterlassen, die Zugang zu ihren Erinnerungen und Träume gewähren. Ihr Paradies war ihr Garten, dessen Blumen und Vögel sie zu 1006 Zeichnungen inspiriert haben. Sie, die auch Sammlerin von 253 Steinen, 47 Zugfahrkarten, 168 Fadenspulen sowie 18 Haarlocken war, inspiriert ihre Enkelin. Dieser Garten ist eine Metapher für Gebiete, die von der Schwerkraft der Welt befreit sind. Heterotopien, wie Michel Foucault diese nannte, die fabelhafte Erfahrungen der Schwerelosigkeit für Körper und Geist ermöglichen. Es passt daher, dass sich zu Beginn des Films Quallen und Astronauten bewegen, die von der irdischen Schwerkraft befreit sind.
 
The Wonder Way ist auf der Suche nach Gebieten, die von Imaginationen bewohnt werden, die die intimen Erfahrungen des ‹Seins in der Welt› erweitern. Emmanuelle Antille macht sich auf den Weg und trägt inmitten des zeitgenössischen Obskurantismus den Strahl ihres Blicks, das rote Licht ihrer Taschenlampe. Die Begegnungen sind einen Umweg wert! Hier das farbige Glühen eines amerikanischen Bühnenbildners, dort der Obstgarten der magischen Apfelbäume, dort der ‹Salvation Mountain› mit seinen üppigen Gemälden und noch woanders das ‹Purifoy Outdoor Desert Art Museum›.
 
Der Film ist von Emmanuelle Antille resolut gewünscht, erdacht und improvisiert, während sie den Ablauf dokumentiert und poetisch niederschreibt. Wendungen und Sprünge, sowie die Übergänge von einer Etappe zur nächsten, bilden eine umfangreiche und beruhigend geschmeidige Erzählung. The Wonder Way ermöglicht es, die Schwelle zu Orten zu überschreiten, die radikal parallel, schräg und rätselhaft sind und verwirrende Spuren in der Tiefe der Zeit hinterlassen können.
 
Die Reise ruft nach gelegentlichen weiteren Begegnungen. Der Essay nimmt die Stimme der Regisseurin selbst genauso einfühlsam auf wie die von Marcel Duchamp und Gilles Deleuze. Keine Effekthascherei, sondern das grosszügige und bescheidene Vergnügen, mit Weggefährten unterwegs zu sein, die mit der Notwendigkeit verbunden sind, der Welt jenseits ihrer unmittelbaren Rauheit Sinn zu verleihen. Am Ende kehren wir in den Garten der 1006 Zeichnungen zurück. Emmanuelle Antille und ihre Mutter vertonen vorsichtig die Bilder, die in Super-8 gefilmt worden sind. Das so angewandte Kino trägt den Glauben in sich, dass es einen Garten vertonen kann, der zur Welt hin offen ist.
 
Aus dem Französischen von Simone Grüninger
Jean Perret
Jean Perret, geboren 1952 in Paris, in Genf etabliert, ist als Autor von zahlreichen Publikationen bekannt, gibt Seminare und Kurse sowohl in der Schweiz wie im Ausland über Semiotik, Ästhetik, Gesellschaft und "cinéma et photographie du réel". Leitet 16 Jahre das Festival „Visions du Réel“ in Nyon, dann ab 2010 das Département Cinéma / cinéma du réel in der Haute École d'Art et de Design in Genf. Heute Mitglied der Redaktionen der online Filmzeitschrift www.filmexplorer.ch und des Kulturmagazins La Couleur des Jours (www.lacouleurdesjours.ch ).
(Stand: 2019)
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