ALAN MATTLI

REISE DER SCHATTEN

Zum Geschichtenerzählen gehören immer zwei: jemand, der erzählt, und jemand, der zuhört. Dass Letztere_r dabei zur aktiven Teilnahme angehalten ist und Leerstellen und Ambiguitäten bisweilen selber auflösen muss, ist selbst bei einer minutiös ausformulierten Erzählung eine instinktive Selbstverständlichkeit. Ob sie nun in einem Buch, auf einer Theaterbühne oder einer Kinoleinwand vorgetragen wird: Zumindest ein Teil der Handlung wird immer im Kopf der empfangenden Person stattfinden.
 
Doch dann gibt es Werke wie Yves Netzhammers CG-Animationsfilm Reise der Schatten, die ihr Publikum ruppiger als gewohnt an seine aktive Rolle erinnern. Mit seinem erzählerischen Minimalismus und seiner eigenwilligen Ästhetik lässt sich das Langfilmdebüt des Schweizer Multimediakünstlers zwar wie die meisten seiner anderen Leinwandwerke (darunter Dialogischer Abrieb, Vororte des Körpers und Formales Gewissen) der Gattung des Experimentalfilms zuordnen; doch Reise der Schatten ist eben auch zu narrativ strukturiert, als dass man seine herausfordernden dramaturgischen Gesten bedenkenlos als vernachlässigbares Mittel zum formalen Zweck einordnen könnte.
 
Bevölkert von rudimentär gerenderten Körpern und Objekten, die sich überwiegend aus simplen geometrischen Strukturen wie Kugeln, Zylindern und Kegeln zusammensetzen, handelt Netzhammers Film von einer Reihe von Figuren, Konflikten und Schauplätzen. Wie genau jedoch die beiden menschenförmigen Protagonist_innen in ihrer anscheinend dysfunktionalen sexuellen Beziehung, der einsame Menschenaffe, die Odyssee übers Meer, die Robinsonade auf der Insel der mechanischen Riesenkrabbe und das Motiv des Unheil bringenden roten Balls emotional und kausal miteinander zusammenhängen, das überlässt der komplett wortlose Film über weite Strecken der Fantasie der Zuschauer_innen.
 
Wer Reise der Schatten etwas abgewinnen will, muss diese mentale Hürde passieren und sich mit der langsamen, kryptischen, dramatisch oft repetitiv wirkenden Erzählung arrangieren – auch weil das visuelle Konzept absichtlich nicht vielfältig genug ist, um 90 Minuten lang die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Im Gegenteil, die schnörkellos-schematische Animation, welche an die groben Bewegungsstudien erinnert, die man aus Making-ofs über die frühen Produktionsstadien von computeranimierten Mainstreamfilmen kennt, unterstreicht die gewollte Sperrigkeit von Netzhammers Handlung noch zusätzlich: Die Bewegungen seiner Figuren sind umständlich, steif und geprägt von sich wiederholenden Mustern. Nicht nur die Montage der Geschichte bedarf engagierter Entschlüsselung; selbst die Gestik – ja sogar die physische Beschaffenheit – der Akteur_innen verlangt nach Interpretation.
 
Diese Kombination aus erzählerischer Losgelöstheit und ästhetischer Abstraktion erlaubt es Reise der Schatten, thematisch faszinierend offen zu sein. Netzhammers Inszenierung suggeriert zum einen einen Kommentar auf das gestörte Verhältnis zwischen der Menschheit und der Natur, die sie ‹gezähmt› – sprich: unterjocht – hat und die nun, womöglich in Form des Klimawandels, zurückzuschlagen beginnt. Zum anderen kann der Film auch als eine Auseinandersetzung mit der Komplexität von menschlichen Beziehungen verstanden werden – insbesondere mit dem Gedanken, dass so eine intime Verbindung zweier Menschen gleichbedeutend ist mit dem Verlust eines Stücks persönlicher Identität.
 
Letztere Thematik ist denn auch verantwortlich für die unbequemsten und damit eindrücklichsten Momente des Films. Reise der Schatten stellt sich der künstlerischen Frage, wie man gesichtslose Figuren ohne unzweideutig erkennbare Charaktereigenschaften beim von negativen Gefühlen aufgeladenen Geschlechtsverkehr zeigt, mit im besten Sinne bizarrem Body-Horror: Abstrahierte Zungen verwandeln sich in röhrenartige Körperöffnungen; babyflaschenförmige Brustwarzen werden Opfer brutaler – aber irgendwie auch nur metaphorischer – Verstümmelungen; das Aufeinanderprallen von Körpern hinterlässt simpel animierte, aber deshalb nicht minder groteske Wunden. Der eindringlichste Body-Horror deutet das Verhältnis zwischen Mensch und Körper um, und Netzhammer gelingt dies hier mit verblüffend einfachen Mitteln.
 
All das fügt sich im Endeffekt zwar nicht zu einem vollauf befriedigenden Gesamtbild zusammen, funktioniert aber – nicht zuletzt dank der ambivalenten Rolle der narrativen Handlung – dennoch als ein anregendes Filmexperiment, welches das Publikum nicht nur mit seiner eigenen Position in der Konstruktion von Geschichten konfrontiert, sondern es auch über seine eigene biologische Realität nachdenken lässt.
Alan Mattli
*1991, studierte Anglistik und Filmwissenschaft, zurzeit Doktorand in Englischer Literaturwissenschaft in Zürich. Freischaffender Filmjournalist, für FacingTheBitterTruth.com, Maximum Cinema und Frame, Mitglied der Online Film Critics Society.
(Stand: 2021)
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