HANS M. EICHENLAUB

AUSBILDUNG IM EXIL — NOTIZEN ZUR SITUATION DER SCHWEIZER FILMSTUDENTEN AN DER HFF MÜNCHEN

CH-FENSTER

Wer sich in der Schweiz zum Filmemacher ausbilden lassen möchte, hat zwei Möglichkeiten: Entweder er lernt autodidaktisch oder er ist gezwungen, ins Ausland zu gehen, um sich an einer der bekannten Filmhochschulen zu immatrikulieren. Eine dritte Variante, sich bei einer unserer Werbefilmproduktionsfirmen oder aber von Fall zu Fall bei Dreharbeiten als Assistent sein Handwerkszeug zu holen, besteht angesichts des Produktionsvolumens nur für ganz wenige. Seit den Filmkursen I, II und III (1967, 1968, 1969) der Kunstgewerbeschule Zürich, an denen Leute wie Imhoof, Hollenstein, Hassler, etc. teilgenommen haben, wird in der Schweiz keine eigentliche Filmausbildung mehr angeboten.

Dass ausländische Filmhochschulen und ähnliche Ausbildungsstätten von Schweizern auch tatsächlich besucht werden, zeigt ein Blick in die Filmförderungsstatistiken des Bundes der vergangenen Jahre. Zwischen 1963, dem Beginn der Bundesförderung und 1975 wurden 155 Stipendien (wovon 41 für Studien im Rahmen der Filmkurse der Kunstgewerbeschule Zürich) im Gesamtbetrag von rund 510 000 Franken an gegen 90 Stipendiaten bewilligt. 105 Stipendien wurden demnach für die Ausbildung an ausländischen Filmschulen aufgebracht. Die Stipendiaten verteilten sich auf 13 verschiedene Institute in Grossbritannien, Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und in der CSSR. Die meisten Schweizer Stipendiaten besuchten die London Film-school, an zweiter Stelle steht das Institut National Supérieur des Arts du Spectacle et Technique de Diffusions (INSAS) in Brüssel, gefolgt von der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB) in Berlin und der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) in München. Seit 1975 richtet der Bund keine Filmstipendien mehr aus. Diese Aufgabe fällt seither den Kantonen zu, die für jedes bewilligte Stipendium einen Rückerstattungsantrag an den Bund stellen können. (Beitragshöhe je nach Finanzkraft des Kantons.) Auf diese Weise sollen Doppelsubventionen vermieden und der Filmkredit des Bundes entlastet werden.

Zum Beispiel München

Man sieht es schon dem Gebäude, in dem die Münchner Hochschule für Fernsehen und Film untergebracht ist an, dass dieser Hochschulzweig nicht zu den traditionellen Wissenschaften zählt. Der funktionelle, schmucklose Backsteinbau an der Kaulbachstrasse hebt sich wohltuend von den Prunkbauten der übrigen Hochschule ab. Die HFF, die vom Freistaat Bayern sowie vom Bayrischen Rundfunk, vom Zweiten Deutschen Fernsehen und von der Landeshauptstadt München getragen wird, wurde 1966 gegründet. Im Wintersemester 67/68 begann im A-Kurs die erste Generation Studenten zu arbeiten, unter ihnen drei Schweizer: Urs Aebersold, Remo Legnazzi und Hannes Meier.

Das Vorlesungsverzeichnis formuliert das Selbstverständnis der HFF folgendermassen:

Das Lehrprogramm soll die Fähigkeiten herausbilden, auf der Grundlage solider Kenntnis des ‚Handwerks’ künstlerische und publizistische Entwürfe zu verwirklichen. Theorie und Praxis, Versuch und Reflexion, Wagnis und Routine stehen dabei in ausgewogener Beziehung zu einander. Zwei Aufgaben stellen sich der Hochschule: einmal qualifizierten Nachwuchs für Berufe und für die Arbeit in den Fernsehanstalten, in privaten Filmproduktionen oder für angrenzende Berufe auszubilden; zu anderen, Raum für Experimente und persönliche Entwicklungen zu geben. Dazu gehört auch die Tätigkeit für und mit Fernsehen und Film in Presse und Wirtschaft. Hinter beidem steht die Idee: Fernsehen und Film sind der Gesellschaft verpflichtet, der sie entwachsen. Die Hochschule befindet sich noch im Ausbau. Gegenwärtig sind an ihr etwa 100 Studenten immatrikuliert. An der Aufstellung des Lehrplanes und der Wahl der Arbeitsmethoden werden die Studenten beteiligt. Das Studium von sechs bis sieben Semestern endet mit einer Abschlussarbeit — einem Film, einer elektronischen Produktion oder einem Drehbuch. Die Ausbildung ist so angelegt, dass die Studenten nach kurzer Einarbeitung der Praxis gerecht werden.

Dass die HFF auf Schweizer Filmstudenten eine starke Anziehungskraft ausübt, liegt wohl nicht nur an der Attraktivität dieser Zielvorstellungen, sondern wahrscheinlich auch an der günstigen geographischen Lage und daran, dass hier Sprachbarrieren fehlen. Immerhin haben sich seit 1967/68 über ein Dutzend Schweizer an der HFF immatrikuliert:

A-Kurs

Urs Aebersold

Remo Legnazzi

Hannes Meier

E-Kurs

Bruno Bollhalder

Friedrich Kappeler

Hans Peter Scheier

Johann Schmid

G-Kurs

Christoph Kühn

Matthias von Gunten

C-Kurs

Marc Bischof

Jürg Caluori

Wolfgang Panzer

F-Kurs

Gabriel Heim

Nino Jacusso

Walter Weber

Nach dem Studium brotlose Handwerker?

Die prekäre Filmsituation in der Schweiz ist bekannt. Eines der reichsten Länder der Welt sieht sich nicht in der Lage, Strukturen zu schaffen, die eine Filmkultur tragen könnten, die den hierzulande an die übrigen Kultursparten gestellten Ansprüchen zu genügen vermag. Der Mangel an eigenen Filmausbildungsstätten spricht diesbezüglich auch Bände! Was also bewegt einen begeisterten Jünger der Siebenten Kunst, an eine ausländische Filmschule zu gehen? Wie sieht er seine Zukunft? Glaubt er an Wunder? Hofft er, später in der Schweiz zu arbeiten, davon zu leben? Bleibt er im Ausland, versucht er, seinen Weg dort zu machen, wo die heute bekannten Schweizer Regisseure über kurz oder lang ohnehin auch landen werden? (Bei Goretta ist es soweit, er dreht seinen nächsten Film im Ausland, andere werden ihm folgen.) Was tun beispielsweise die Absolventen des A-Kurses? Wie beurteilen die jüngeren, noch immatrikulierten Leute ihre Situation?

Einige dieser Fragen vermag Doris Herzog, Assistentin an der Abteilung Film- und Fernsehspiel, zu beantworten. Sie wirkt wie die «gute Seele» des Instituts, sie weiss wer wann wo anzutreffen ist, und sie pflegt den Kontakt auch zu den Ehemaligen. Wenn einer bei seinem Projekt nicht weitersieht oder sich bei ihr über mangelnde Finanzen zur Realisierung einer Idee beklagt, tröstet sie: «Vor nicht allzu langer Zeit sass der Wenders (ein Absolvent des A-Kurses) hier und der hatte genau dieselben Sorgen!» Und stolz zeigt sie an die Wand, wo neben vielen andern auch das Plakat von Wim Wenders neuem Film Im Lauf der Zeit hängt. Von den Schweizern des A-Kurses weiss sie zu erzählen, dass Urs Aebersold bei Die Fabrikanten (erneut zeigt sie auf ein Plakat an der Wand) mitgemacht hat und dass er im Moment für die ARD-Serie Tatort Drehbücher schreibt. Auch Hannes Meier arbeitet fürs Fernsehen sowohl in Zürich wie auch für deutsche Anstalten. D. Herzog erinnert etwa an seinen Beitrag Costa del Sol - fest in Deutscher Hand. Remo Legnazzi ist in die Schweiz zurückgekehrt. Seine Filmografie umfasst die Werke Erfüllte Hoffnung, westliche Jugend in Indien und Buseto - die Emigration am Beispiel eines sizilianischen Dorfes, beides Dokumentarfilme. Momentan bereitet er seinen nächsten Film Prugiascer-Chronik, eine filmische Dokumentation über ein Tessiner Bergdorf vor.

Unterschiedliche Aussichten

Um einige der an der HFF noch aktiven Schweizer zu treffen, führte mich Friedrich Kappeler (der eben den E-Kurs beendet hat und nun in die Schweiz zurückkehrt, wo er ein bereits ausführungsreifes Projekt realisieren möchte und daneben fotografisch tätig sein wird) spätabends ins «Stop-in». In der rauchigen Münchner Kneipe an der Türkenstrasse, ganz in der Nähe des Arriflex-Hauptsitzes, stiessen wir denn auch auf eine Gruppe von HFF-Leuten, Deutsche wie Schweizer. Kappeler selbst hat sich mit Emil Eberli, dem Porträt eines Aussenseiters gute Kritiken geholt und erhielt für Müde kehrt ein Wanderer zurück den Preis der Schweizer Filmkritiker. Bruno Bollhalder, zusammen mit Kappeier, Scheier und Schmid im E-Kurs (von ihnen war vor Jahren in Solothurn die Gruppenproduktion Fuchsmühl zu sehen, und letztes Jahr zeigten sie Sprich zu mir wie der Regen, das Ergebnis eines Regieseminars mit Douglas Sirk.), hat allein noch keinen Film gemacht. Zurzeit arbeitet er an seinem Abschluss-Drehbuch. Bollhalder hat sich etwas auf die Tontechnik spezialisiert. Er machte in dieser Sparte bei verschiedenen Produktionen mit, zuletzt bei Im Lauf der Zeit von Wim Wenders. «Durch Zufall», wie Bollhalder erklärt, «bin ich dazu gekommen. Es mussten 14 Tage nachgedreht werden und Wenders’ Tonmeister war verhindert. So konnte ich einspringen. In diesen zwei Wochen habe ich mehr gelernt, als in den paar Semestern an der Schule.» Er möchte nach dem Abschluss einige Zeit in der Schweiz arbeiten, um Geld zu verdienen. Später sieht er sich in Frankreich, wo er hofft, sich durch Assistenzen Erfahrungen, auch im Bereich der Regie, zu holen. Wie ich von deutschen Kollegen aus demselben Kurs vernehme, arbeitet Hans Peter Scheier (Flächen) erneut an einem pädagogischen Film zusammen mit Prof. Müller-Wiegand und Johann Schmid (Game over) habe eben einen Schulfilm gedreht. Walter Weber aus dem F-Kurs hat vor kurzem den ersten Kursfilm beendet. Der ehemalige Schauspielschüler und Lehrer strahlt einen fast ansteckenden Optimismus aus: «Ich bin überzeugt davon, dass man in der Schweiz schon Filme machen kann, wenn man das handwerkliche Rüstzeug mitbringt. Den Dokumentaristen, die jetzt beginnen, Spielfilme zu drehen, wird von einer jüngeren Generation Konkurrenz erwachsen, die sich direkt dem Spielfilm zuwendet», erklärt er. Nino Jacusso, im gleichen Kurs wie Weber, sieht die Situation ganz anders. Seiner Meinung nach wird es in der Schweiz unheimlich schwierig sein, etwas anzufangen. Deshalb ist es für ihn, der zu den Gründern der «Solothurner Filmwerkschau» (den «kleinen Solothurner Filmtagen») gehörte und dort mit seinen Superacht-Streifen Massstäbe gesetzt hat, wichtig, sich mit den Kursfilmen einen Namen zu machen. Seinen ersten Münchner-Film Kinderspiele wird man nächstes Jahr in Solothurn sehen. Jacusso sieht den Profit der Schule darin, praktisch professionell an der Kamera, bei Ton und Licht arbeiten zu können, «einmal den Druck kennenzulernen, der während den Dreharbeiten auf der Regie lastet». Sein Ziel für die Zukunft heisst ganz klar Kino, schon TV-Arbeit sieht er höchstens als vorübergehenden Brotberuf.

Theorie Und Praxis

Doris Herzog gibt ihren Studenten den Rat, «die Zeit hier zu nutzen, um Kontakte herzustellen, hauptsächlich in den TV-Anstalten.» Demgegenüber macht Nino Jacusso die Erfahrung, dass sich «Kontakte zwar knüpfen lassen, vor allem Kontakte mit Handwerkern, mit Technikern, aber kaum je mit Leuten, die Einfluss haben». Doch auch am Abweichen der Zielsetzung der Schule von der geübten Praxis wird von verschiedenen Seiten Kritik angebracht. Neben der praktischen Ausbildung, dem reinen Handwerk soll ja Raum für Experimente bestehen. Dass dem nicht so ist, wird stark bemängelt. Doch selbst Assistent Wolfgang Längsfeld stimmt dem zu:

Mir ist die allgemeinverwertbare Praxis lieber als das Experiment. Ich bin der Meinung, dass genügend Experimente gemacht worden sind. Das Schwergewicht liegt heute auf der Praxis und das heisst auf der Professionalität.

Damit wird sich auch die Schweizer Kolonie an der HFF abzufinden haben, darunter auch jene, die mit der Orientierung an französischen und amerikanischen Vorbildern, die die Ausbildung postuliert, wenig anfangen können. In einer HFF-Werbebroschüre heisst es zur Abteilung Film:

Die Ausbildungsziele orientieren sich auch an den zu erwartenden Berufsmöglichkeiten der Studierenden. Aus diesem Grunde werden (z. T. in Zusammenarbeit mit der Abteilung Fernsehpublizistik) auch der Dokumentar- und der Lehrfilm sowie in Fällen besonderen Bedarfs Industrie- und Werbefilm im Unterricht berücksichtigt.

Vielleicht müssten die Schweizer in Anbetracht der sie erwartenden Berufsmöglichkeiten zusätzlich auch als Strassenwischer und Kübelmannen angelernt werden...

FORMATION EN EXIL

Hans M. Eichenlaub éclaire la situation de la formation au métier du cinéma en Suisse et constate que depuis les cours de cinéma à l'école des Beaux-Arts de Zurich dans les années 1967, 68 et 69, plus aucune véritable formation cinématographique n'est proposée. De jeunes Suisses sont donc obligés d'aller acquérir leur formation de cinéastes à l'étranger. Les statistiques concernant l'encouragement au cinéma par la Confédération démontrent qu'entre 1963 et 1975, cent cinquante-cinq bourses ont été attribuées et que, durant cette période plus d'une centaine de ces bourses ont été utilisées pour la formation dans une école de cinéma à l'étranger. Prenant comme exemple l'Institut des Hautes Etudes Télévisuelles et Cinématographiques de Munich, Eichenlaub examine les activités et les perspectives des anciens étudiants et des étudiants actuels. Quelques-uns de ces étudiants nous disent comment ils s'imaginent leur avenir de cinéastes en Suisse, même si l'appréciation de leurs chances diverge passablement, force est de constater que la majorité est plutôt pessimiste. (AEP)

Hans M. Eichenlaub
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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