IVO KUMMER / HANSRUEDI RIESEN

KINO „ELITE“ - 1915-1985 — WOLLTE MAN DAZUGEHÖREN, MUSSTE MAN INS KINO

ESSAY

Seit 1982 hatte man davon gesprochen, 1985 ist es endgültig geworden: Das Kino „Elite“ in Solothurn bleibt für immer geschlossen, das Inventar ist verkauft, der Umbau in ein Geschäftshaus geplant.

An sich unspektakulär. Das Kinosterben ist einem so geläufig wie das Waldsterben. Man hat sich daran gewöhnt.

Die mittelgrosse Kantonshauptstadt Solothurn, ein kleines Idyll in der mittelländischen Provinz am Jurasüdfuss verliert jedoch nicht bloss ein Kino. Noch hat es ja fünf weitere auf dem Platz; sie reichen für die kinematografische Versorgung der Bevölkerung aus. Aber: Die Region verliert mit dem „Elite“ ein regionales Filmzentrum, eines, das über Jahrzehnte mit Beharrlichkeit und unternehmerischer Umsicht aufgebaut worden war. Ein Zentrum sogar, das über die regionalen Grenzen hinaus wichtige Impulse in die schweizerische Filmlandschaft gegeben hat.

Der hauptsächliche Baumeister dieser Bedeutung war der Kinobesitzer Walter R. Weber. Sein Vater, Emil Weber-Wolf, erwarb 1915 Remise und Pferdestallungen des Hotels „Hirschen“. Nach knapp zweimonatiger Bauzeit sind die leerstehenden Gebäude zum „Cinotheater Hirschen“ geworden. Das Unternehmen stiess nicht nur auf begeisterten Willkomm: Der Holzofen im Zuschauerraum wurde feuerpolizeilich beanstandet. Nur der Hinweis des Direktors auf die Heizung im Saal des Amtsgerichts, die genau gleich funktionierte, konnte die vorzeitige Schliessung des Cinotheaters verhindern.

In Solothurn konnte die Neuzeit beginnen.

Ein erster Erfolg waren die Kriminalstummfilme in über 20 Akten. Zwei Episoden füllten ein Abendprogramm, und regelmässig in den spannendsten Momenten kam die Schrifttafel „Fortsetzung im nächsten Programm“. Besucher sollen den Direktor auf seinem Heimweg bis vor die Haustür bestürmt haben, um Aufschluss oder auch bloss Andeutungen über den weiteren Verlauf der Dinge zu erhalten.

Stummfilme wurden von Musikern live begleitet, meistens von ausländischen Saisonniers, die jährlich drei Monate in ihrer Heimat verbringen mussten, was die Fremdenpolizei strengstens kontrollierte. Wenn sie weg waren, sprang der stadtbekannte „blind Kiefer“ ein; ihm zur Seite sass der junge Walter R. Weber und flüsterte ihm laufend ins Ohr, was auf der Leinwand vor sich ging. Je nachdem, verfiel der blinde Musiker in leichte, tänzerische oder in marschartige Rhythmen.

Der Tonfilm brachte nicht nur kompliziertere Apparaturen — zuerst Projektor und einigermassen synchron dazugeschaltete Schallplatten —, sondern auch eine Vergrösserung des Hauses. Die Familie Weber konnte zwei Nachbarhäuser erwerben, und liess darin das „Elite“ einbauen. Auch eine Variétébühne fand in den neuen Räumlichkeiten Platz; vor dem Vorhang unterhielten Zauberkünstler und Akrobaten die Zuschauer, bis der Hauptfilm begann.

Walter R. Weber wurde Direktor des Betriebs, und er war nicht einfach einer, der Filme laufen liess. Zum Beispiel wollte er während des Zweiten Weltkriegs auch das Cabaret „Pfeffermühle“ mit Erika Mann nach Solothurn verpflichten, was ihm die hohe Regierung nicht gestattete; politisch sei das viel zu riskant, meinten die Herren. Da verlegte Weber die Vorstellung ins nahe — und bernische — Herzogenbuchsee. Die Solothurner pilgerten nach Herzogenbuchsee; jede Vorstellung war ausverkauft... und die Solothurner Regierung verstimmt.

Bald führte Weber Doppelprogramme ein: Ein deutscher Film und ein fremdsprachiger Film mit deutschen Untertiteln. So lange das ging, und es ging nicht sehr lange, denn Weber weigerte sich, Filme aus dem nationalsozialistischen Deutschland zu zeigen, auch die „unpolitischen“, denn diese Filme waren obligatorisch begleitet von der propagandistischen Filmwochenschau. Da sich das „Flite“-Publikum bereits an Untertitel gewöhnt hatte, zeigte Weber eben fremdsprachige Filme mit Untertiteln, und das Publikum verlief sich nicht — nicht bei ihm; er arbeitete mit Gewinn.

Weber war ein echter Kinodirektor, einer, der sich seinem Publikum zeigte und Red’ und Antwort stand. Bei fast jeder Vorstellung, über rund sechzig Jahre hinweg, war er anwesend, oft begleitet von seiner Frau und vom Sohn. Er begrüsste und verabschiedete die Zuschauer, wollte wissen, wer gekommen war. Der Kinogänger war Gast; das „Elite“ war Walter Weber, und Walter Weber war das „Elite“.

Seine jahrzehntelange Erfahrung brachte ihn auch in den Vorstand des Schweizerischen Lichtspieltheater Verbandes, dessen Vizepräsident und Präsident und Ehrenpräsident er wurde. An der Spitze des SLV, arbeitete er auch mit der „Präsens“-Film zusammen, pflegte beste Kontakte mit Lazar Wechsler und entwarf mit ihm eine neue Tarifordnung für Schweizer Land- und Kleinstadtkinos. Der Schweizer Film wurde vertragsgemäss höher entschädigt als der importierte. Das „Elite“ wurde nichts weniger als ein Promoter der einheimischen Produktion auf der Auswerterseite. Lazar Wechsler zeigte sich erkenntlich: „Präsens“-Produktionen hatten zum Teil im Solothurner „Elite“ ihre Premiere. Die Spielstelle wurde zu einem Brennpunkt der ideologischen Heimatfilme der „geistigen Landesverteidigung“.

In der Region war das „Elite“ der einzige Kinobetrieb mit Bestand. Andere gaben auf, eröffneten neu, wechselten den Besitzer, den Direktor. Sie liessen sich von den wirtschaftlichen Launen des Gewerbes entmutigen oder entschlossen sich zu aggressiverer Geschäftsführung und verdienten und verloren in kurzer Zeit viel Geld.

Wenn’s dem Betrieb gut ging, programmierte Walter Weber stets kulturell wertvolle, politisch relevante Filme. Er hatte einen guten Draht zu Filmschaffenden und Politikern, der kleine Mann in der Provinz.

Er machte das Machbare, zeigte in der ersten Wochenhälfte Studiofilme und am Wochenende Unterhaltungsfilme, ohne dabei zu einträglichen Sex and Crime- Streifen Zuflucht zu nehmen. Das „Elite“ bot bis zum Schluss Gewähr für „guten Film“, integrierte sich immer stärker in den Alltag der Bevölkerung, wurde als Begegnungs- und Kommunikationsort rege genutzt. Sagte man in Solothurn: „ich gehe ins Kino“, meinte man, „ich gehe ins,Elite’.“

Das Publikum wurde selber aktiv. Bereits in den zwanziger Jahren wurde eine „Kulturfilmgemeinde Solothurn“ gegründet. Ihre Mitglieder interessierten sich vor allem für „Naturfilme“ (Landschafts-, Länder-, Expeditionsfilme) und sie stellte Sonntagsmatinee-Programme für das „Elite“ zusammen. Weber arbeitete mit und konnte auf diese Weise das Stammpublikum des „Elite“ entscheidend vergrössern. Altersmässig setzte sich die „Kulturfilmgemeinde“ nicht gleich zusammen wie das übliche Kinopublikum. Der Ruf des „Elite“ festigte sich und erlaubte die Durchführung der Studiofilmabende, die offen und aggressiv gegen das übliche Filmangebot der anderen Betriebe programmiert waren.

Ganz selbstverständlich stellte Weber noch exklusiveren Gruppen von Filmliebhabern seinen Saal zur Verfügung. Sie projizierten Filme, die bei anderen Kinobesitzern und Kinobesuchern nur ein Kopfschütteln provoziert hätten. Die Solothurner Filmbegeisterten schlossen sich zur „Filmgilde Solothurn“ zusammen, mit dem Ziel, dem kommerziellen Film der sechziger Jahre alternative Formen gegenüberzustellen. In enger Zusammenarbeit mit dem Kinobesitzer versuchte die Filmgilde mit Erfolg, die bereits traditionellen Studiofilmabende zu fördern und erst noch einen Schritt weiter ins dezidiert experimentelle Filmschaffen zu wagen. Ohne „Filmgilde“ und „Elite“ hätte das Filmpublikum der idyllischen Kleinstadt Bergmann wie Truffaut, Antonioni, Godard wie Wajda erst viel später, wenn überhaupt, kennengelernt, und nicht dann, als sie brennend aktuell waren. Besucher aus anderen Regionen der Schweiz reisten zu den Vorstellungen der „Filmgilde“ nach Solothurn, zum Teil aus grösseren Städten. Ein regelmässig erscheinendes Bulletin stellte die programmierten Filme vor und versuchte, eine Sprache und eine Schrift für die „neuen Bilder“ zu schaffen.

Auch in der Schweiz kamen diese „neuen Bilder“ langsam ins Gerede, und es war die „Filmgilde“, die 1966 nach Solothurn zu einer zweitägigen Veranstaltung einlud, die abklären sollte, was wahr war an dem Gerede. An der Tagung „Schweizer Film heute“ wurde der alte Schweizer Film totgesagt und der neue ausgerufen. Das waren die ersten „Solothurner Filmtage“. Die zweiten wurden organisiert von der „Schweizerischen Gesellschaft Solothurner Filmtage“. Die „Filmgilde“ hatte die neue und arbeitsintensiv zu werden versprechende Aktivität einer spezialisierten Gruppe abgetreten und wehrte sich selber gegen den Besucherschwund im Kino infolge des Fernsehens und für eine fortschrittlichere kantonale Verordnung über das Filmwesen oder ging auch weit über die spezifisch filmkulturellen Arbeiten hinaus: So sammelte die „Filmgilde“ beispielsweise öffentlich die „Zivilverteidigungsbüchlein“ ein, um sie an den Absender, den schweizerischen Bundesrat, zurückzuschicken. Zusammen mit den Progressiven Organisationen Solothurns führte sie eine Untersuchung über die durch Spekulation und damit verbundener Entvölkerung bedrohte Altstadt durch. Zum letzten Mal trat die „Filmgilde“ 1978 in Erscheinung, als sie mit dem Filmkreis Olten ein Seminar „Brecht und der Film heute“ veranstaltete.

In diesem Jahr fanden bereits die 13. Solothurner Filmtage statt, seit Jahren bereits auch im „Elite“.

Für die zweite Auflage der Veranstaltung hatte die Gesellschaft einen Kinosaal gesucht. Walter R. Weber war Mitbesitzer des Kinos „Scala“ am westlichen Stadtrand und war dafür besorgt, dass die Filmtage im „Scala“ abgehalten werden konnten. Als das „Scala“ dann zu klein wurde, musste ein zweiter Saal gesucht werden, nicht weit: es war das „Elite“. Das „Elite“ wurde zum Schaufenster des Neuen Schweizer Films, von 1972 bis 1985, zunächst zusammen mit dem „Scala“, später mit dem grossen „Landhaus“-Saal.

Warum hatte Walter R. Weber Hand geboten, immer wieder, von der „Kulturfilmgemeinde“ über die „Filmgilde“ bis zu den „Solothurner Filmtagen“? Ganz einfach: „Ich wollte, dass man erkennt, dass die ganze Filmszene Zusammenarbeiten muss, dass die Front zwischen Filmwirtschaft und Filmschaffen nicht existiert, dass es,bei uns* auch ganz,ökumenisch* zugehen kann. Wie in der Kirche.“

Als der Verkauf des „Elite“ durch die Erbengemeinschaft Weber AG (Verwaltungsratspräsident: Walter R. Weber) bekannt wurde, reagierten die regionalen Medien nicht wie bei irgendeinem Hausverkauf. Das „Elite“ gehörte eben ins äussere wie ins innere Bild der Stadt. Bald formierte sich eine „Interessengemeinschaft ‚Elite’“, die das Gebäude auf genossenschaftlicher Basis als Kulturladen weiter betreiben wollte. Doch das nötige Geld konnte, trotz vielverheissenden ersten Erfolgen, nicht zusammengebracht werden. Die „Gesellschaft Solothurner Filmtage“ entwarf ein Modell für die Uebernahme des „Elite“ durch eine Stiftung. Auch dieses Konzept scheiterte. Die Einwohnergemeinde Solothurn war an einer Uebernahme der Liegenschaft und der Einrichtung eines kommunalen Kinos nicht interessiert.

„Ein Kino wie eine Turnhalle wie eine Kirche“, sagte Weber, „haben etwas gemeinsam. Sie haben ein Dach und Mauern, und drinnen leeren Raum, keine Geschäfte oder Wohnungen. Braucht man sie nicht mehr, kann man sie nur noch abreissen.“

Schliessung, Abbruch oder Umbau dieses traditionsreichen Kinos hinterlassen im kulturellen und sozialen Leben der Stadt eine grosse Lücke, nicht nur für die Filmfreunde. Bereicherungen des politischen Alltags, Ideen, aktive politische Arbeit versinken in der berüchtigten Grauzone. Das Angebot guter Filme wird massiv reduziert, und vor allem ist ein Ort der Begegnung verloren. Die Trivialisierung des Kinoprogramms hat nun in Solothurn kein Hindernis mehr. Umsatz und Wirtschaftlichkeit allein diktieren die Programmierung: Discount-Strategien verdrängen die Chance des Kinos als Begegnungs- und Kommunikationsort.

Ich weiss, solches kommt überall vor. Doch das „Elite“ betrifft mich und viele Freunde. Man spürt einen Verlust, eine Art Heimatlosigkeit. Noch ein Stück dieses kleinstädtischen Idylls ist verloren.

Für die Solothurner Filmtage bedeutet diese Schliessung mehr als bloss einen neuen Umzugstermin. Der Bestimmungsort des Films, das Kino, wird dem Film entzogen, genau in dieser Woche im Januar, wo er ihn bislang — vielleicht einmalig — erreichen konnte. Es gäbe Ersatzkinos in Solothurn. Aber: Wie kommt man auf die 438 Sitzplätze des „Elite“? Da müssten drei andere Kinos mitmachen. Und die Direktoren würden alle ihre Einbussen vorrechnen, von ihrem Risiko klagen. Kommerziell sind die Solothurner Filmtage uninteressant.

Das „Elite“ ist leergeräumt. Ein Stück Kinogeschichte, Kinokultur, ein Stück Stadt ist verschwunden.

Kinobesuche, ich meine Filmbesuche, werden für uns Solothurner ein Reiseziel.

Ivo Kummer
1959, Medienschaffender und -journalist, Mitglied der Geschäftsleitung Solothurner Filmtage, lebt und arbeitet in Solothurn.
(Stand: 2019)
Hansruedi Riesen
1954, freischaffender Fotograf, lebt und arbeitet bei Solothurn.
(Stand: 2019)
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