Noch brodelt das Berlin der frühen Dreissigerjahre - in raffinierten Amüsierlokalen versammeln sich die Nachtschwärmer. Das liberale Klima der Weimarer Republik scheint zunächst von den Aufmärschen der Nationalsozialisten unbehelligt. Kurt Tucholsky, als kritischer Journalist und Schriftsteller «das Gewissen Deutschlands», geniesst mit seiner Muse den Puls der Grossstadt, lauscht lasziven Chansons, in der Ahnung, dass all dies bald ein Ende haben wird: Tucholsky ist angeklagt auf Grund von drei Worten aus seiner Feder: «Soldaten sind Mörder.» Sein Verleger steht hinter ihm, doch der Hellsichtige ist Deutschland überdrüssig. Es lockt die Vorstellung eines unbeschwerten Sommers zu zweit auf dem Landsitz seines schwedischen Mäzens.
So weit die Exposition von Xavier Kollers Spielfilm Gripsholm, der Motive aus dem Roman Schloss Gripsholm und biografische Splitter aus dem Leben des Schriftstellers vermischt. Eine schöne Sommergeschichte soll er mitbringen aus Schweden, meint Tucholskys Verleger. Dasselbe hat sich Koller für seinen Film vorgenommen: Ein Märchenschloss mit einem diskreten und freigebigen Gastgeber - das ist das Refugium des gehetzten «Tigers» Tucholsky (Ulrich Noethen) und seiner «Prinzessin» Lydia (Heike Makatsch). Die Leichtigkeit des Seins - zwei Berliner Freunde sind alsbald da - gipfelt in einer tollkühnen Spritztour über den Wolken. Die Landung ist ernüchternd: Aggressionen brechen aus, die sich in nächtlichen Billardspielen zwischen Tucholsky und seinem an das neue Deutschland glaubenden Fliegerfreund Karlchen (Marcus Thomas) angestaut haben. Auch die singende Diva der Berliner Boheme, Billie (Jasmin Tabatabai), verlässt nach einer Nacht zu dritt das Paar Tucholsky/Lydia, das sich am Ende des Sommers trennen wird.
Gripsholm ist für hiesige Verhältnisse grosszügig und sorgfältig inszeniertes Kino der Emotionen. Kollers Referenz ist Hollvwood. Aufwendige Kamerafahrten, mit vollem Musikeinsatz orchestriert, zeugen ebenso wie visuell ausgekostete Flugakrobatik von diesem Anspruch, den der Film zu Beginn auch überzeugend einlöst. Eine perfekt choreografierte Kamera (Pio Corradi), gute Schauspielleistungen und die bestechende Neuinterpretation von Tucholsky-Chansons durch Jasmin Tabatabai und dem Ensemble Kol Simcha machen die erste, in einem Kabarett spielende Sequenz zu einem Genuss. Doch die Intensität der Inszenierung lässt schnell nach. Auf Dauer vermögen das Paar und seine unverhofften Besucher trotz sinnlich und auch witzig inszenierten Momenten nicht zu berühren. Koller vernachlässigt in seiner Beherztheit für die romantische Schwelgerei in Kamera- und Musikeinsatz den grossen erzählerischen Bogen. Für eine wirklich «leichte Sommergeschichte» fehlt Gripsholm die anarchische Energie und Eigenwilligkeit. Tucholskys hoffnungsloses Leiden an Deutschland, seine tiefe innere Verlorenheit wiederum ist allzu summarisch abgehandelt. Durch diese Unentschlossenheit versprüht Gripsholm trotz schönen Glanzlichtern den eigenartig naiven Charme einer Fünfzigerjahre-Literaturverfilmung. Kollers Humanismus und sein Mut zu grossen Gefühlen, mit erzählerischem Geschick in Reise der Hoffnung vereint, flottieren frei in Gripsholm.