ROBERT SCHÄR

SO ARBEITET FELLINI

ESSAY

In seinen letzten Filmen hat Fellini seine Hauptfiguren immer mehr durch eine Reihe von Nebenfiguren charakterisiert, die über ihre eigene Zeichnung hinaus Teilinformationen über die Hauptfigur vermitteln. Er nennt dies ein «chorales Prinzip». Was Fellini mit seinen Hauptfiguren tut, haben wir mit ihm zu machen versucht. Um einige Momente seines Arbeitsprozesses bei der Realisation eines Films zu beleuchten, haben wir seine engsten Mitarbeiter befragt.

Die Drehbuchautoren

«Normalerweise geht Fellini von einer Idee aus, die er bereits mehrere Jahre im Kopf hat und die er lange reifen lässt», erzählt Bernardino Zapponi, der die Drehbücher zu Toby Dammit, Satyricon, Satyricon, Roma und zum neuen Projekt Casanova geschrieben hat.

Von Satyricon hatte er schon sehr lange vorher gesprochen, die Idee zu Casanova geht auf die Zeiten von Otto e mezzo zurück, und von einem ‘Orlando Furioso’ spricht er schon seit ewig. Doch er beginnt erst, konkret an einem Projekt zu arbeiten, wenn er einen Schlüssel dazu gefunden hat, eine spezielle Optik, in der das Thema erscheinen soll. Beim Satyricon war es die Vision eines alten Rom, dass sich wie eine Art Planet präsentierte, etwas Galaktisches, in der Zeit weit Entferntes. Ohne diese spezielle Perspektive hätte ihn die Sache nicht interessiert. Vom Augenblick an, wo der Schlüssel zum Film gefunden ist, geht die Arbeit dann sehr rasch voran.

Mit Bernardino Zapponi hat Fellini alle seine jüngeren Filme geschrieben. Doch für Amarcord hat er den Drehbuchautor von Antonioni, Tonino Guerra, beigezogen. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass Zapponi in Rom aufgewachsen ist und keine Beziehung zur Welt der Provinz hat, während Guerra bei Rimini aufgewachsen ist und z. T. dieselben Kindheitserinnerungen und Bekanntschaften wie Fellini hat. «Mit Fellini arbeitet man auf eine sehr angenehme Art», sagt Tonino Guerra, «sehr oft spricht man gar nicht über das Drehbuch, sondern über ganz andere Dinge. Plötzlich aber, zwischen einem Essen und einer Autofahrt, entdeckt man, dass man das Drehbuch bereits in Händen hat. Natürlich muss sich der Drehbuchautor in Fellinis Universum bewegen, vor allem bei gewissen Themen. Aber man bewegt sich doch immerhin mit grosser Freiheit.»

Wenn das Drehbuch geschrieben ist und die Realisation des Films vorbereitet wird, kommt die unvermeidliche Pressekonferenz. Die Journalisten bedrängen Fellini mit ihren Fragen. Da erzählt Fellini dann einfach Geschichten, die mit dem Film überhaupt nichts zu tun haben. Von Amarcord z. B. sagte er, es handle sich um einen Mann, der eines Tages aufwacht und entdeckt, dass er sämtliche Sinne verloren hat. Um diese wiederzufinden, suche er in seiner Erinnerung einen Punkt, von dem er neu ausgehen und sich seine Sinne wieder aneignen kann. Diesen Punkt finde er in der Kindheit wieder, die er in Rimini verbracht habe.

«Es ist eine Art, den Film zu maskieren», erklärt Tonino Guerra, «aber nicht um die Journalisten zu betrügen, sondern um den Film nicht zu betrügen. Sonst erscheint der Film bereits fertig in den Zeitungen und die ganze Lust, ihn zu drehen, vergeht. Wir haben jene Geschichte erfunden, weil die Journalisten uns derart bedrängten, dass wir nicht mehr leben konnten. Dabei sagten wir die unglaublichsten Dinge, so absurd, dass die Journalisten hätten merken sollen, dass es sich bloss um Lügen handelte, aber sie haben alles geschluckt.»

Bei der Schauspielersuche konzentriert sich Fellini fast ausschliesslich auf das Gesicht. Es gibt einen kleinen Grundstock von Gesichtern, die er immer wieder verwendet, den grössten Teil aber sucht er sich für jeden Film neu. Das geschieht auf Reisen durch ganz Italien. In jeder Stadt lässt er sich durch ein Zeitungsinserat ankündigen, und wenn er kommt, bersten die Hotelzimmer von Kandidaten. Das Aussuchen der Gesichter für einen neuen Film ist eine jener Arbeiten, die Fellini am meisten fasziniert. Er kann nie damit aufhören und möchte am liebsten alle Italiener sehen.

Assistenten und Biographin

«Manchmal geschieht es, dass gewisse besonders starke Gesichter die Rolle, für die sie eingesetzt werden, verändern», erklärt Regieassistent Maurizio Mein. «Fellini besitzt die Fähigkeit, die erdachte Figur dem ausgewählten Gesicht anzupassen.» Und Gerald Morin, ein anderer Assistent, meint dazu:

Er lässt die Leute immer das spielen, was sie im Leben sind, und nicht die im Drehbuch vorgesehene Rolle. Viele Leute glauben, dass sie im Film etwas anderes darstellen, aber das ist nicht wahr. Die Faschisten in Amarcord sind zwar nicht Mitglieder der neofaschistischen Partei, aber ihre Mentalität ist effektiv faschistisch; die Prostituierten in Roma sind zum grossen Teil auch im wirklichen Leben welche, usw. Um während der Dreharbeiten das gewünschte Resultat von diesen Leuten zu erhalten, tut Fellini alles, um Vertrauen zu erwecken. Sie haben immer den Eindruck, er sei nur gerade für sie da. Er passt sich auch ihrem Charakter an: mit einem Schauspieler ist er sehr hart, mit einem andern äusserst nachgiebig, mit einem dritten regt er sich sofort auf. Bei gewissen Leuten tut er so, als ob er sich überhaupt nicht um sie kümmern würde, weil er weiss, dass sich diese dann erst anstrengen, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und nur auf diese Weise ihr Bestes von sich geben.

Die Fellini-Biographin Liliana Betti erklärt

Fellini wählt die Leute nach ihrem Gesicht aus. Wenn sie dann zu den Dreharbeiten kommen, besteht das Problem, dass hinter jedem Gesicht ein Individuum und eine Geschichte steht. Kaum beginnt sich der Schauspieler zu bewegen, kommt all das heraus. Fellini dagegen will bloss die Präsenz des Gesichtes, das ihm etwas Bestimmtes suggeriert hat. Sie sollen bloss da sein, alles andere interessiert ihn nicht. Wenn sie dann einen Satz sagen müssen, sollen sie das auf die leichteste Art tun. ohne persönlich einzugreifen. Er führt die Schauspieler sehr genau, gibt Anweisungen wie ein Turnlehrer — zwei Schritte vor, drei zurück, den Kopf nach links drehen. Das gilt selbstverständlich vor allem für Laienschauspieler.

Schaut man Fellini bei den Dreharbeiten zu, so fällt einem auf, wie er die Schauspieler in ein Korsett von Gesten presst, das oft so eng wird, dass sich die Leute gelähmt fühlen. Das kann dann zu temperamentvollen Szenen und Auseinandersetzungen führen und sieht sich sehr schmerzhaft an. Es handelt sich um eine bewusste Arbeitsmethode. Dazu noch einmal Liliana Betti:

Einen Schauspieler zu lähmen ist eine Phase, um das Maximum seiner Spontaneität zu erreichen. Durch das Lähmen entblösst ihn Fellini vollkommen von jeglicher Individualität. Nach dieser Phase ist dann der Schauspieler zu allem bereit, was Fellini will. Solange der Schauspieler etwas Eigenes in seine Rolle legt, ärgert sich Fellini.

Mit den professionellen Schauspielern und den Hauptdarstellern scheint Fellini immerhin ein anderes Verhältnis zu haben. Meistens bespricht er mit ihnen die Rolle, oft dürfen sie sogar das Drehbuch lesen — Fellini ist sehr geizig damit, sogar die Assistenten müssen um eine Kopie des Drehbuches kämpfen —, doch er erzählt ihnen nie die ganze

Wahrheit über ihre Rolle. Er vermeidet, dass sie die Figur vollständig erfassen, und jedes Mal wenn sie glauben, die Rolle verstanden zu haben, zerstört Fellini diese Gewissheit. Auch hier, auf einer anderen Ebene, verlangt er eine totale Verfügbarkeit.

Von den Schauspielern zur Kamera: für Fellini stellt sie das Publikum dar. Er bereitet die Szene in Bezug auf ein Auge vor, das im Augenblick der Aufnahme nicht bloss das Objektiv der Filmkamera ist, sondern zugleich die Millionen Augenpaare des Publikums darstellt. Der Zuschauer soll die Kamera nicht spüren; er soll beim Geschehen anwesend sein.

Der Kameramann

Der Kameramann Giuseppe Rotunno arbeitet mit Fellini seit der Episode Toby Damnit (Histoires extraordinaires) zusammen. Für ihn geschieht die Übersetzung der Gedanken in Bilder vor allem auf der Basis der Erfahrung und Intuition.

Es genügt mir, zu sehen, dass sich Fellini auf eine bestimmte Art bewegt, und bereits spüre ich etwas. Manchmal sprechen wir nicht einmal zusammen, man beginnt einfach auf irgendeine Art zu arbeiten und gelangt dann zusammen zu einem Resultat, das, glaube ich, immer Fellinis Vorstellungen entspricht. Er hat eine grosse Fähigkeit wortloser Vermittlung wenigstens was mich betrifft. Ich brauche keine Fragen zu stellen, denn ich weiss, dass es auch für ihn äusserst schwierig ist, zu erklären, was er machen möchte. Deshalb versuche ich ihn intuitiv zu verstehen, seine Gedanken aufzunehmen und sie auf die richtige Weise zu übertragen.

Es stimmt, dass der Stil eines Kameramanns darin besteht, keinen eigenen Stil zu haben, sondern sich dem Regisseur und dem Film anpassen zu können. Manchmal wird eine bestimmte Atmosphäre in einem Film nicht durch das Auge des Regisseurs gesehen, sondern durch dasjenige der Figur im Film das ist der Fall bei der Szene des verrückten

Onkels in Amarcord, die mit den Augen des Onkels selbst gesehen wird, und nicht mit meinen oder Fellinis Augen.

Doch das Auge Fellinis bestimmt natürlich immer noch die Optik des ganzen Films und deformiert die Realität, indem es sie den eigenen Bedürfnissen anpasst. Fellini hat für Amarcord halb Rimini in der Cinecità nachgebaut, er hat das Meer rekonstruiert — für ihn ist es unmöglich geworden, die Realität als solche zu akzeptieren, ohne ihr eine persönliche Note zu geben. «Er entfernt sich damit nicht von der Realität», meint Rotunno, «sondern er verspürt die Notwendigkeit, die Wahrheit zu erfinden. Wenn wir die Ereignisse auf der Strasse filmen, können sie auch falsch erscheinen oder wenigstens einen falschen Eindruck erwecken. Wenn der Autor dagegen einen genauen Eindruck der Wahrheit vermitteln will, muss er sie erfinden, denn sonst wird sie von den realistischen Gegebenheiten verzerrt. Wenn einer wahre Emotionen vermitteln will, muss er sie erschaffen. Bei Fellini ist es so, dass die Wahrheit umso wahrer ist, je mehr sie erfunden wird.»

Im Gegensatz zu den früheren Filmen, wo das Barocke und Surrealistische als Stilmittel eingesetzt wurde, hat Fellini im Zusammenhang mit Amarcord von einer «expressiven Keuschheit» gesprochen. Rotunno erklärt diesen Begriff folgendermassen:

Wenn wir die Filmsprache von Amarcord mit einem Malstil vergleichen wollen, würde ich die naive Malerei anführen, die mir sehr gefällt. Für mich ist sie ein Gefühl, nicht nur ein Malstil, und zwar ein äusserst reines Gefühl. Als Fellini den Film im Kopf hatte, verspürte er spontan genau jene Atmosphäre, die wir in den Bildern gewisser naiver Maler fühlen: Ligabue, Metelli, Rovesti. Amarcord ist ein reines und keusches Gefühl in diesem Sinn. Naive Maler, sind der Natur nahe; sie haben nicht abstrahiert, sie haben sich nicht entfernt, sie sind dageblieben und haben ihre Gefühle ausgedrückt, manchmal mit einer groben Technik, aber die Tatsache, dass sie keine bestimmte Technik besitzen, macht sie frei. Sie arbeiten instinktiv. Fellini und ich sind von dessen Überlegungen ausgegangen. Wir wollten dieses Gefühl der grossen Freiheit als Grundlage haben. Fellini ist für mich überhaupt ein ‘Naiver’ weil er immer einfache, archaische Gefühle verspürt.

Ein gefühlsbetontes Verhältnis schein Fellini auch mit seinem Werk zu haben. Er sieht seine Filme wie Personen, die sich ihm nähern und sich von ihm entfernen. Ihn verbindet ein Liebe-Hass-Verhältnis mit dem eigenen Produkt. Diese Beziehung nimmt fast biologische Formen an, wenn er von jener Nabelschnur spricht, die er während der Filmmontage durchschneiden muss, um endlich etwas von sich stossen zu können, das sein eigenes Leben begonnen hat und das er nicht mehr kontrollieren kann.

FELLINI AU TRAVAIL

Robert Schär se réfère au «principe du choral» cher à Fellini, c’est-à-dire à la technique de la définition du personnage principal par des personnages de second rang qui répètent, interprètent, commentent un trait caractéristique du héros. Schâr fait un portrait de Amarcord par l’intermédiaire de deux scénaristes, deux assistants, la biographe Liliana Betti et le caméraman Guiseppe Rotunno.

Bernardino Zapponi (scénariste, Tobby Dammit, Satyricon, Les Clowns, Roma, Casanova) n’a pas travaillé pour Amarcord, Fellini ne l’estimait pas assez provincial. Fellini laisse mûrir ses idées pendant des années et trouve soudain «la clé». Pour Satyricon elle consistait en une perspective idéale: l’antique Rome en tant que planète galactique lointaine. La clé trouvée, le travail avance rapidement.

Tonino Guerra, le scénariste d’Antonioni, a collaboré au scénario de Amarcord, il décrit la méthode de travail. Fellini et lui ont souvent parlé d’autre chose; en route, entre l’entrée et le premier plat, n’importe où et quand, une idée surgit et on se rend compte que le scénario «s’est fait». Le scénariste doit entrer dans l’univers de Fellini mais il s’y meut avec une liberté remarquable. Fellini raconte n’importe quoi aux journalistes avant de tourner un film, il ne veut pas trahir son film avant qu’il ne soit né.

Les assistants Maurizio Mein et Gerald Morin ainsi que la biographe officielle Liliana Betti parlent du choix et du travail des acteurs. Fellini se concentre sur les visages, il les recherche dans toute l’Italie. Un acteur doit seulement correspondre à la vision d’un personnage; il ne doit pas jouer et Fellini a développé des techniques personnelles pour obtenir les résultats désirés. Aux acteurs mineurs, il ne demande finalement qu’une disponibilité totale, les acteurs principaux eux-mêmes ne savent souvent rien de la portée des scènes. Fellini est très secret. Presque personne ne dispose d’une copie du scénario. Un acteur qui croit comprendre son rôle est souvent brusqué; Fellini détruit sa sûreté et demande une nouvelle et totale disponibilité.

Le caméraman Giuseppe Rotunno parle de sa communication non-verbale avec Fellini. Dans les films de Fellini la caméra prend le point de vue de l’œil du spectateur, le caméraman ne crée que l’atmosphère du regard et il aide le réalisateur à changer le point de vue. Certaines séquences exigent une autre perspective, par exemple la séquence de l’oncle fou qui est vue par les yeux de celui-ci. Fellini ne peut plus travailler dans des décors naturels parce qu’ils falsifient les intentions. Il recrée une réalité pour mieux exprimer sa vérité. Pour devenir vrai il doit inventer et plus il invente plus il est vrai.

Fellini et Rotunno ont envisagé un style pictural précis qu’ils ont dénommé «chasteté expressive». En effet, dit Rotunno, ils ont essayé de retrouver l’atmosphère des peintres naïfs italiens (Ligabue, Metelli, Rovesti). En somme Fellini est — pour Rotunno —un «naif» parce qu’il ressent toujours des sentiments archaïques et simples.

En conséquence, Fellini développe des liens très affectifs avec son œuvre. I Idit qu’il coupe le cordon ombilical lors du montage.

Robert Schär
Keine Kurzbio vorhanden.
(Stand: 2020)
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