KARL SAURER

DIE SUCHE NACH DEM DURCHSCHNITT — FILMSCHULEN, DIE SCHULE DES FERNSEHENS UND MÖGLICHE ALTERNATIVEN

CH-FENSTER

Auch die 13. Solothurner Filmtage zeigten deutlich, wie «international» — Schwarzenbach würde bestimmt ein drastischerer Ausdruck einfallen — das schweizerische Filmschaffen ist. Neben den Arbeiten cineastischer Reisläufer, die sich zeitweilig in den Sold ausländischer TV-Anstalten gestellt haben (wie Hannes Meier, Johannes Flutsch oder Michael Mrakitsch), waren auch diesmal eine Reihe von Produktionen zu sehen, die von schweizerischem Nachwuchs an Filmschulen im Ausland gemacht wurden. Die London International Filmschool oder die Academy of Arts in San Francisco tauchten da als Coproduzenten auf; und für nicht weniger als acht Filme zeichneten die Hochschule für Fernsehen und Film in München oder die Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin als Produzent (zweimal in Coproduktion mit Fernsehanstalten).

Diese «Auslagerung» der Ausbildung — weil es am wenigsten kostet, bildungspolitische Aktivitäten erspart und medienpolitische Folgeprobleme (scheinbar) ausklammert — hat für die betroffenen Filmstudenten sicher nicht nur Nachteile. Im Gegenteil, subjektiv werden wohl die meisten den Aufenthalt in Berlin oder München dem «Diskurs in der Enge» vorziehen. Nur, das Zurückkehren fällt von Jahr zu Jahr schwerer — und welche Möglichkeiten hat die Heimat schon zu bieten, wo der Kuchen doch bereits für die mehr oder minder arrivierten Dagebliebenen viel zu klein ist? Welche Absolventen von Filmschulen arbeiten z.B. beim Schweizer Fernsehen? Wobei allerdings sogleich auch zu fragen wäre, wie viele sehen die TV-Arbeit überhaupt als erstrebenswert an; welche Erfahrungen von Kollegen oder welche Angebote der Anstalten könnten sie dafür motivieren?

Sicher, ein bisschen hat sich auch beim Fernsehen getan. Einige Auftragsproduktionen kamen zustande, einzelne Regisseure von ausserhalb sammelten Studioerfahrung, und es bestehen konkrete Pläne, weiteren «freien» Filmschaffenden Arbeitsmöglichkeiten zu bieten: Etwa bei einem Projekt des Ressorts «Religion und Sozialfragen». Geplant sind (vorläufig elf) filmische Porträts aus dem Bereich der Arbeit («... Arbeit, verstanden als Tätigkeit eines einzelnen, als Mittel zur Selbstverwirklichung, als Wert, als Teil-Lebensinhalt. Jedes der zu realisierenden Beispiele soll auf die Person des dargestellten Menschen beschränkt bleiben, ohne dabei aber das aus der Arbeit entstehende persönliche Umfeld (soziale Stellung, Freizeit) zu vernachlässigen.») Unter den vorgesehen Autoren dieser Reihe sind Namen, die man bislang von Solothurn her kannte, wie Iwan Schumacher oder Friedrich Kappeler.

Dass dieses TV-Projekt ausgerechnet den Arbeits-Titel «Auf der Suche nach dem Durchschnitt» trägt, scheint mir mehr als ein ironischer Zufall zu sein. Denn diese Formel «Suche nach dem Durchschnitt» entbehrt ja nun wirklich nicht einer perfiden Doppeldeutigkeit. Und eine kritische Bestandsaufnahme der bisherigen TV-Filme zu konkreten gesellschaftlichen Themen (wie dem anvisierten Bereich der Arbeit) nährt eher die Befürchtung, dass die intern herrschenden Normen stärker sein werden als die kreativ-kritischen Impulse von aussen. Diese herrschenden Normen reichen von der vorgegeben fixen Sendedauer über bürokratisch verplante Dreharbeiten, bei denen die Motivation und Kooperationswünsche der Beteiligten hinter einer «reibungslos funktionierenden» Disposition zurückzutreten haben, bis zur sattsam bekannten Ausgewogenheitsforderung mit ihrer verheerend einebnenden Wirkung.

Wenn hier von den Normen und Zwängen für Fernsehschaffende die Rede ist, sollen allerdings auch atypische Beispiele — Fälle, die sozusagen die Ausnahmen von der Regel darstellen — nicht unterschlagen werden. Zum Beispiel der in Solothurn vorgeführte 93-minütige Dokumentarfilm Alois oder Die Wende zum Besseren lässt auf sich warten von Tobias Wyss mit Kameramann Hannes Meyer für Fernsehen DRS gedreht. Dieser aussergewöhnlich gründlich recherchierte, liebevoll aufgenommene, eindringlich-authentische Fernsehfilm steht als Gegen-Beispiel dafür, dass es auch beim Fernsehen noch «Produzenten», d.h. leitende Programmacher gibt, die Autoren und Realisatoren auch einmal Gelegenheit gewähren, sich so umfassend und so intensiv auf eine Geschichte aus der helvetischen Wirklichkeit einzulassen, wie es die komplexe Realität erfordert; und nicht, wie es dem abstrakten Kalkül einer technokratischen Administration fungibel erscheint: einer Administration, die die Zuschauer an starre Zeitschematas und einheitlich geeichte «Sendegefässe» gewöhnt, um sich dann später darauf zu berufen, dass die Zuschauer ja nichts anderes wollen. In den Fernseh-Anstalten sind die Programmordnungs-Fetischisten ja bereits soweit, dass sie nicht nur zeitlich genormte Eigenproduktionen durchsetzen, sondern auch eingekaufte Filme auf einheitliche Sendegefäss-Ausmasse zurechtstutzen.

Dass sich bei den Fernsehanstalten — obwohl sie sich ja nicht direkt über den Markt definieren — Normierung grösseren Stils durchsetzen, ist eigentlich nicht sonderlich neu. Dass jedoch der Trend zu möglichst problemlos-glatter Verwertbarkeit auch schon auf die Arbeiten am Filmhochschulen durchschlägt — vergleichbar dem Numerus-Clausus-Druck, der von den Hochschulen bis auf die Grundschulen wirkt — gibt sehr zu denken. Denn dieses Bemühen um Anpassung — das bei Co-Produktionen von Hochschulfilmen mit Fernsehanstalten in einer direkten ökonomischen Abhängigkeit gründet — ist verknüpft mit einem weitgehenden Verzicht auf radikale, d. h. an die Wurzeln gehende Versuche und Konzepte. Auf Arbeiten, die etwas riskieren, die aber noch im Misslingen mehr Erfahrung und Erkenntnis bringen als altklug-anpässlerische Imitation abgesegneter Muster oder braves Nachexerzieren von Experimenten von gestern und vorgestern.

Anscheinend fehlen an den Filmschulen für ein Lernen und Arbeiten, das einerseits freier und mutiger ist und sich andererseits an der widersprüchlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit orientiert, einige Voraussetzungen. Eines der ungeklärten Probleme besteht meines Erachtens im Fehlen eines differenzierten Berufsbildes bzw. in der unklaren Berufsperspektive, Wozu bilden die Filmschulen aus? Wo werden medienspezifisch qualifizierte Kräfte gebraucht und was für Leute werden gebraucht?

Am besten sind solche allgemeinen Fragen anhand konkreter Situationen und Probleme zu verdeutlichen.

Da gibt es zum Beispiel in München Sozialarbeiter eines Freizeitheims, die händeringend nach Leuten aus der Medienbranche suchen, weil von Lehrlingen und Jungarbeitern der Wunsch kam, einen Film oder so etwas darüber zu machen, wie sie ihre Autos frisieren, wie sie damit an Rallies teilnehmen und wie es ihnen dabei ergeht. Videogeräte stünden zur Verfügung. In der gleichen Stadt hocken HFF- Absolventen abends frustriert in Kneipen herum, weh sie ihr Geld mit Taxifahren und ähnlichen Jobs verdienen, da sie als Filmemacher keine Arbeit finden. Dieser Widerspruch zwischen objektiven Bedürfnissen und subjektiven Wünschen ist weniger ein Kommunikations- als ein Identitätsproblem. Und es hängt zusammen mit dem recht diffusen Berufsbild, das den Filmemacher irgendwie als — mehr oder weniger genialen — Künstler sieht.

Dass es auch in der Schweiz auf lokaler und regionaler Ebene Bedürfnisse und Wünsche gibt, gesellschaftliche Themen und Probleme mithilfe von Film und Video darzustellen und zu reflektieren, zeigen u. a. verschiedene Anfragen an jene politisch-kulturelle Organisation, die bei uns in Produktion und Vertrieb medienpraktische Pionierfunktionen erfüllt und —. bei allen Mängeln und Widersprüchen — mittlerweile so etwas wie ein Modell für die Verbindung von kommerzieller und alternativer Medienarbeit geworden ist: die Filmcooperative und das Filmkollektiv Zürich. Wenn allerdings Typographen aus Genf Medienarbeiter in Zürich um Rat und eventuelle Hilfe für ein Projekt über die akuten Strukturveränderungen im graphischen Gewerbe (mit Rationalisierung, Arbeitsplatzverlust usw.) anfragen müssen, zeigt dies, wie unterentwickelt die Situation bei uns noch ist.

Eine mögliche Alternative und ein Ausweg aus diesem kulturpolitischen Dilemma bestünden darin, lokale und regionale Medienzentren aufzubauen. Bei entsprechender öffentlicher Unterstützung könnten diese auch gewisse Ausbildungsfunktionen übernehmen. Zudem böten sie ein Arbeitsfeld für jene im Ausland fachlich ausgebildeten Medienarbeiter, die ihre Energie und Fantasie gerne auch in jenem Land und zur Veränderung jenes Landes einsetzen möchten, dem sie entstammen.

In seinem Aufsatz «Zur Lage des Schweizer Films — 15 Jahre nach dem Filmgesetz und zehn Jahre nach den ersten internationalen Erfolgen» resümiert Freddy Buache, dass es für die Schweizer Filmemacher «an der Zeit ist, sowohl die Bedeutung ihrer Kunst wie auch die Bedeutung des bisher Erreichten praktisch und theoretisch zu überprüfen. Sie müssen ihre Beziehung zum Zuschauer neu überdenken, ihre Beziehungen zum Bild, zum Ton, zu den technischen Geräten, zum Fernsehen, zum Geld, zum Staat und vor allem zu sich selber.» Dem ist sicher zuzustimmen. Andererseits ist es jedoch auch für die wichtigen gesellschaftlichen und politischen Gruppen und Organisationen — sowie für die zuständigen staatlichen Instanzen — an der Zeit, ihr Verhältnis zu den Filmschaffenden zu überprüfen und basisdemokratische Anstrengungen und Auseinandersetzungen nicht nur nicht zu behindern, sondern angemessen zu unterstützen.

Karl Saurer
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(Stand: 2020)
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